RUÄCH – EINE REISE INS JENISCHE EUROPA von Andreas Müller, Simon Guy Fässler, Marcel Bächtiger

Am Ende ein grosses Fest © frenetic

Ein «Ruäch» ist einer, der nicht jenisch ist. Im französischen Dialekt ist das der «Gadjo». Nein, das sei eigentlich nie abwertend gemeint, erklärt Lisbeth Sablonier übers Mobiltelefon.

Dann seien er und Simon also auch «Ruäche», fragt Andreas Müller nach.

«Klar. Oder seid ihr jenisch? Eben.»

Die Abgrenzung von den anderen, das ist einfacher als die Definition der eigenen Identität. Vor allem, wenn die Abgrenzung in der Form von Ausgrenzung nur zu oft von den «anderen» ausgegangen ist.

Darum definiert der «Ruäch» im Filmtitel die Form dieses wunderbaren Dokumentarfilms.

© frenetic

Andreas Müller und Simon Guy Fässler haben keinen Film über Jenische machen wollen, sondern mit ihnen. Und das ist ihnen gelungen, unter anderem, weil sie ohne Zeitdruck und These um echte Begegnungen bemüht waren.

Auf die Fragen, die sie stellen, erhalten sie oft Antworten, die auch wieder Fragen aufwerfen. Die eigene Identität zu benennen, fällt keinem ihrer Gewährsleute leicht. Das habe auch damit zu tun, erklärt einer, dass viele schon als Kinder gelernt hätten, sich für ihre Herkunft zuerst zu schämen und sie später mit Stolz zu verheimlichen.

Lisbeth und Irma Sablonier © frenetic

Doch, Kinder hätte sie schon gerne gehabt, erzählt Lisbeth Sablonier sehr spät im Film. Und erklärt dann fast nebenbei, dass der Arzt, der ihr, der jungen jenischen Frau, erklärt hatte, sie leide an einem gefährlichen Krebs, das behauptet hatte, um sie heimlich zu sterilisieren.

«Eine Zigeunerin mehr, die sicher keine Kinder bekommen wird», habe sie den Arzt zur Praxishilfe sagen hören, als sie noch einmal zur Türe reinkam, um etwas Vergessenes in der Garderobe zu holen.

Fast alle die älteren Jenischen, welche Andreas Müller und Simon Guy Fässler über mehr als sieben Jahre hinweg begleitet, gefilmt, in Gespräche verwickelt haben, erzählen irgendwann beiläufig von solchen Katastrophen, von der Aktion «Kinder der Landstrasse», von Verachtung, von Quälereien in der Schule.

Der Nachwuchs beim Meditieren © frenetic

Und so erklärt sich irgendwann von selber, warum die beiden Langzeitdokumentaristen zu Beginn ihres warmen, zugeneigten und oft sehr fröhlichen Films mit ihrem alten Camper entgeistert völlig allein auf einem Platz am Waldrand stehen.

Die Fahrenden, die sie dort treffen wollten, sind nicht da.

Der Freund am Mobiltelefon, der das Treffen eingefädelt hat, verweist auf die Angst vor Aufmerksamkeit, welche die meisten dieser Familien präge.

Ein älterer Mann meint einmal trocken, es sei besser, keine schlafenden Hunde zu wecken. Darum lebe man eben in provisorischen Unterkünften, ohne legitime Ansprüche durchzusetzen.

Fischen von Hand © frenetic

Davon hält Isabelle Gross im französischen Annemasse wenig. Sie ist eine eher junge Patriarchin, das Clanzentrum, und sie kämpft seit Jahrzehnten um die legitimen Landansprüche ihrer Familie und die einst dem Grossvater im Tausch gegen die Landabtretung für den Bau eines Supermarktes versprochenen Chalets.

Der Igel? Ein Kulturfolger. © frenetic

Der Film vergeht mit seinen zwei Stunden wie im Flug. Sieben Jahre Begegnungen, Neugier, Vorsicht und schliesslich Vertrauen auf beiden Seiten hat Marcel Bächtiger im Schnitt zu einem dichten Geflecht von Informationen, Emotionen, Hoch- und Tiefpunkten verwoben.

Das ist ein Film von drei Freunden in Zusammenarbeit mit vielen neuen Freundinnen und Freunden. Das strahlt von der Leinwand.

offizielle Filmwebseite: ruaech.ch
Kinostart: Ende August 2023
Verleih: Frenetic Films

 

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