YOUTH (SPRING) Quingchun von Wang Bing

© Arte France Cinema

Dreieinhalb Stunden Dokumentarfilm über Textil-Sweatshops in China, das klingt erst mal ein wenig anstrengend. Tatsächlich ist der Film von Wang Bing aber noch anstrengender als erwartet.

Das ist kein Dokumentarfilm über Ausbeutung, globale Produktionswege, Billigtextilien oder menschenverachtend optimierte Abläufe, jedenfalls nicht im längst zur Gewohnheit gewordenen Infotainment-Sinne.

Fotograf und Filmemacher Wang Bing hat fünf Jahre lang, von 2014 bis 2019, in Zhili City gefilmt, in einer Provinz, in der rund 300’000 migrantische Arbeiterinnen und Arbeiter jedes Jahr vor allem Kinderkleider für den chinesischen Binnenmarkt herstellen. In hunderten von privaten Workshops mit angeschlossenen Schlafblöcken.

Wang Bing hat 2017 in Locarno den Goldenen Leoparden gewonnen für seinen Dokumentarfilm über das Sterben der Mrs. Fang.

Während jener Film in relativ kurzer Zeit recht viel über die ökonomischen Hintergründe, die Familienverhältnisse und die Verdienstmöglichkeiten der begleiteten Familien vermittelte, suchte Bing mit seiner neuen Langzeitdokumentation offenbar etwas anderes.

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Im Bild seiner Handkamera sind fast ausschliesslich junge Männer und Frauen um die zwanzig, welche aus ihrer jeweiligen Provinz nach Zhili City gekommen sind, um Geld zu verdienen.

Sie arbeiten alle an Nähmaschinen in lauten grossen Räumen, fertigen im Akkord Thermohosen, Jacken, Rüschenkleidchen, Schürzen oder Shorts in Kindergrössen. In den ersten Szenen wähnt man sich noch in einem Jugendsommerlager. Die jungen Männer und Frauen flirten, blödeln und sind erstaunlich gut drauf für die Eintönigkeit ihrer Arbeit.

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Das hat wohl auch damit zu tun, dass sie in relativ kleinen, familiären Shops arbeiten, sich organisieren und im Verlauf des Films auch immer wieder gemeinsam mit dem jeweiligen Patron um die Entlöhnung für die Stückzahlen feilschen.

Es kommt zu Streit, zu Liebesbeziehungen. Der Film lebt mehr oder weniger mit diesen jungen Menschen in den Workshops und in den Schlafhäusern, dreckigen, mehrstöckigen Gebäuden, in denen jeweils drei bis vier sich ein Zimmer teilen, Frauen und Männer im gleichen Haus, wie es aussieht.

Die sanitären Einrichtungen beschränken sich auf ein Minimum, Bad/Toilette teilen sich alle Raumbewohner auf dem gleichen Stock, Abfallsäcke werden auf der umlaufenden Galerie deponiert oder gleich auf die Strasse hinuntergeworfen – wofür auch all die mit Planen zugedeckt dastehenden Autos zeugen.

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Der Film interessiert sich für diese jungen Männer und Frauen, für ihren Alltag und den Umgang, den sie miteinander pflegen. Er interessiert sich dagegen so gut wie gar nicht für die technischen Abläufe.

Die Nähmaschinen funktionieren alle, Material ist vorhanden, wer die Schnittmuster entwirft oder die Stoffe einkauft und zuschneidet wird kaum gezeigt: Es geht offensichtlich nicht um die Produktion und auch nur bedingt um die Produktionsökonomie.

Dafür kommt die Eintönigkeit der massiv zu Geltung. Dass die Aufnahmen über fünf Jahre hinweg entstanden sind, erschliesst sich zum Beispiel erst über ein paar eingeblendete Sätze im Abspann.

Die Menschen sind weitgehend die gleichen, die Arbeit sowieso, und dass eine billigere synthetische Stoffart den früheren, weicheren und besser zu verarbeitenden Stoff in allen Shops abgelöst hat, erfahren wir beiläufig, als es einer der Männer gegenüber dem Patron als Argument vorbringt, warum er die Stelle wechseln möchte.

Im besten Falle ist Youth (Spring) ein immersives Zeitdokument, vermittelt eine Ahnung von Chinas halburbaner Realität des letzten Jahrzehnts – das gesamte Material stammt ja aus Vor-Covid-Zeit.

Wer dafür weniger Faszination aufbringt und weniger Geduld, fragt sich nach einer Weile, ob neunzig Minuten nicht das gleiche hätten leisten können wie die in Cannes gezeigten 210 Minuten.

Klar erscheint aber auch, dass Wang Bing diese Familienbetriebe hat filmen können und dürfen und damit einen Teil von Chinas Arbeitsrealität zeigen, weil sie für den Binnenmarkt produzieren und die gezeigten Arbeiterinnen und Arbeiter recht souverän und selbstbestimmt wirken.

In den Apple-Produktionsstrassen von Foxconn und Konsorten wäre so ein Langzeitdreh weder möglich gewesen, noch hätte der chinesische Staat dazu Hand geboten.

Und vielleicht ist es diese Erkenntnis im Nachhinein, der Kontrast zum bestehenden westlichen Halbwissen, welche die Ausführlichkeit des Gezeigten legitimiert: Das Nicht-Gezeigte schwingt mit.

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