ANATOMIE D’UNE CHUTE von Justine Triet

GOLDENE PALME CANNES 2023

© MK2 Films

Sandra Hüller und Justine Triet sind ein eingespieltes Team. In Triets Sibyl von 2019 spielte Hüller die Mika, die grossartige Parodie einer rabiat zielgerichteten deutschen Filmemacherin. Das war noch eine kleine, aber zentrale Rolle neben der dominierenden Virginie Efira.

Nun ist Sandra Hüller im Zentrum eines Gerichtsdramas mit Vorgeschichte, als rabiat zielgerichtete deutsche Schriftstellerin.

Sandra Hüller als Sandra © MK2 Films

Sandra ist mit ihrem französischen Mann und ihrem jungen Sohn, der bei einem Unfall das Augenlicht verloren hat, von London in die verschneiten französischen Berge bei Grenoble gezogen.

Am Tag, an dem eine Studentin die erfolgreiche Autorin zu interviewen versucht, stört ihr Mann, ein bisher erfolgloser Autor, das Interview mit dröhnender Musik vom Dachboden, bis Sandra die junge Frau bedauernd wegschickt.

Wenig später liegt der Mann tot draussen im Schnee, mit einer klaffenden Wunde an der Seite des Kopfes. Gefunden wird er vom Sohn, der mit seinem Blindenhund einen Spaziergang gemacht hat.

Das alles dauert etwa eine halbe Stunde und nun beginnt die eigentliche Analyse, die der Titel andeutet. Sandra heuert den von Swann Arlaud gespielten Anwalt zu ihrer Verteidigung an, als ihr klar wird, dass mangels anderer Spuren nur zwei Hypothesen möglich sind: Ein Suizid ihres Mannes, oder dass er von seiner Frau gewaltsam vom Balkon gestossen wurde.

Justine Triet spielt die Möglichkeiten der Untersuchung und des Prozesses durch, und Sandra Hüller bleibt unheimlich souverän in ihrer Rolle. Die Frage, ob sie ihren Mann umgebracht hat oder nicht, stellt sich nicht nur für die Staatsanwaltschaft und das Kinopublikum, sondern auch für den jungen blinden Sohn.

Genau das macht diesen Film zu deutlich mehr als dem üblichen Courtroom-Drama. Denn verhandelt wird letztlich nicht die Mechanik eines Falles, sondern die Dynamik einer Paarbeziehung. Und der Blick darauf von innen und von aussen.

Während der Staatsanwalt seinen Job macht und vor allem seine männlichen Zeugen klar gegen die Angeklagte eingenommen sind, ist Sandras Verteidiger auch davon getrieben, dass er einst hoffnungslos in seine Mandantin verliebt war.

Formal ist der Film eine clever konstruierte Variation auf ein Genre, komplett mit Rückblenden, die aus Beschreibungen hervorgehen, oder aus Tonaufnahmen, oder gar aus Rekonstruktionen, mithin also spekulative Rückblenden – immer ein Leckerbissen, wenn nicht zur plumpen Täuschung eingesetzt.

Das zentrale Bravourstück ist ein ausgedehnter Streit zwischen den Eheleuten, der zwar nur als Tonaufnahme existiert, aber gezeigt wird, bis zu dem Punkt, da es handgreiflich wird. Ab da gilt es, die Geräusche zu interpretieren und den Aussagen der Angeklagten zu vertrauen oder eben nicht.

Die Dynamik dieses Streites ist grossartig präzise, weil die Gedankenfolgen und Vorwürfe und Erklärungen beider Eheleute sehr nachvollziehbar sind – was darauf hinausläuft, dass es keine Eindeutigkeit geben kann, und darum auch keine Kausalität.

Der blinde Sohn (Solan Machado Graner) © MK2 Films

Der Sohn, der als Zeuge vor Gericht ebenfalls vernommen wird, hängt damit rational und emotionell völlig in der Luft. Und doch findet er für sich und den Film und die Geschichte eine überraschende Lösung.

Justine Triet spielt analytisch und synthetisierend mit den Elementen ihrer Geschichte, wie schon in Sibyl. Zur psychologischen Präzision gesellt sich die Versuchsanordnung der Wahrnehmung und der Interpretation.

Sandra ist eine präzise Autorin, die, wie sie selbst sagt, unter allen Umständen arbeiten kann. Auch im grössten Lärm oder Trubel. Ihr Mann dagegen bringt seinen Roman nicht auf die Reihe, weil seine Ansprüche, die er an sich selbst stellt, schlicht zu gross sind.

Und der Sohn schliesslich, dessen Sehkraft praktisch inexistent ist, der hört um so besser. Und er hat einen präzisen Geruchssinn und ein für sein Alter erstaunlich abgeklärtes Denkvermögen.

Das alles macht diese 150 Minuten Film zu einer scharfsichtigen, schön gebauten Maschine. Sandra Hüller ist perfekt in der Rolle, die in ihrer Klarheit und Direktheit Gedankenwiderspruch fordert, während das emotionale Drama des Sohns dafür sorgt, dass sich das Herz nicht ausklinken kann.

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