Ein starker Auftakt für den Internationalen Wettbewerb von Locarno 76.
Auch wenn die Formel dieses Films zu den ältesten des Kinos gehört, Sofia Exarchou zwingt uns einen ziemlich frischen Blickwinkel auf:
THE SHOW MUST GO ON.
Das gilt für die zusammengewürfelte Truppe von Ferien-Animateuren in dieser griechischen All-inclusive-Ferienhölle im doppelten Sinne.
Diese jungen und nicht mehr ganz jungen Menschen um Kalia geben täglich ihr Bestes, um Stimmung zu machen unter verklemmten, verschüchterten, versauten, hilflosen, jungen und vor allem mittelalterlichen Feriengästen.
Wenn Kalia (sensationell: Dimitra Vlagopoulou) nicht gerade eine neue Choreographie einstudiert mit den anderen, oder einen zweiten oder dritten Nebengig im Club in der Stadt organisiert, hat sie Sex mit dem liebevollen Simos (Ahilleas Hariskos) oder kümmert sich um dessen kleine Tochter.
Die Animateure sind Saisonarbeiter, viele kennen sich seit Jahren, haben Sommer für Sommer zusammengearbeitet. Andere stossen neu dazu, etwa die zurückhaltende Eva (Flomaria Papadaki), die behauptet, aus Polen zu kommen.
Wenn die Truppe nicht animiert, hängt sie zusammen ab, animiert sich ironisch gegenseitig, erzählt Anekdoten, säuft und blödelt. Man weiss vieles voneinander, aber meist nicht alles. Und die Show der guten Laune spielt auch hinter den Kulissen.
Bis Kalia sich verliert. Auslöser, oder Symptom, ist eine Verletzung bei einem besonders besoffenen Club-Dance-Finale. Die Wunde am Bein geht tiefer, als sich Kalia eingestehen mag, der Schmerz ist plötzlich stärker als die kunstgerecht aufrecht erhaltene gute Laune zu jeder Zeit.
Sofia Exarchou baut auf dem Filmhintergrund des Schmachteklassikers Dirty Dancing ihren Film um die modernen Zirkusleute der Pauschalferien, die «Saltimbanques» der All-inclusive-Holidays.
Das hätte eine giftige Aufsicht mit der Präzision und den Zentralperspektiven eines Ulrich Seidl werden können. Aber die griechische Filmemacherin wählt das Mitleiden, trägt es ihrem Publikum unwiderstehlich und verführerisch an.
Ja, Bingo-Nachmittage mit Simos sind niederschmetternd sinnlos; schlechter Gesang für alle, mit Vortanzen für jene, deren Knie noch mitmachen: deprimierend.
Aber fast schleichend baut Exarchou mit ihren glänzenden Darstellerinnen und Darstellerin eine Mitreissmaschine. Die Mischung auf Professionalismus und gerade ausreichendem Talent, eigener Traumwelt und besoffener Flucht vor dem Alltag gebirt immer wieder cineastische kleine Showpieces, Mönsterchen des Einfallsreichtums und der überraschenden Schönheit.
Wenn sich die halbe Truppe mit Schminke, Gel und Plastifolie in ein Fischballett verwandelt, taucht die Kamera mitten in dieser Touristenschmonzette in eine ästhetisch überraschende, choreographierte und durchkomponierte Minute der wahren Schönheit ein.
Was Kalias wachsende Verzweiflung über die Abnutzung der eigenen Begeisterungsfähigkeit nur um so stärker wirken lässt.
Animal ist ein Film, der aus der alten Kinometapher von Showbiz = Leben und dem leisen Echo von «Lache, Bajazzo!» eine neue Wahrheit herausholt, mit sozialer Schärfe und ohne allzu deutliche Verweise auf ökonomische Mechanismen.
Wenn Kalia Eva mit leisem Staunen erzählt, wie lange sie den Job schon macht, geht mir als Zuschauer ein Schaudern über den Rücken.
Und wenn Kalia schliesslich mit schmerzlichem Lachen zur Erkenntnis gelangt, sie sei eine Jukebox: Dann hat der Film seine Kürzestformel gefunden, aus der Sofia Exarchou ein tönendes, mitreissendes, niederschmetterndes, grossartiges Maximum herausholt.