Da sind wir wieder, in der hypnotischen Schwarzweisstrance von Lav Diaz.
Mit 215 Minuten ist sein jüngstes Epos fast schon ein Kurzfilm, zumindest im Rahmen seines Oeuvres. Aber es geht auch wieder um eine Geschichte, die sich über Jahrzehnte hinzieht.
Polizeileutnant Hermes Papauran hängt an einem «Cold Case», dem Verschwinden einer Aktivistin, die auch als Künstlerin und Model bekannt war.
2005 wurde sie das letzte Mal gesehen und alle paar Jahre fragt sich Papauran erneut rund um den grossen See herum, befragt Menschen, die sich noch an das letzte Mal erinnern, schaut Dokumentarmaterial an, das er auswendig kennt, und träumt seine Alpträume.
Seine Frau und seine zwei Kinder erreicht er bisweilen über Telefon, seine aktivste Partnerin ist seine Vorgesetzte bei der Polizei. Mit ihr hat er die Polizeischule absolviert, Idealisten alle beide, die dem Volk dienen wollten.
Nun ist sie Oberst im Corps, und er, der einst brillanteste Ermittler von allen, wie sie sich erinnert, besessen von diesem einen ungelösten Fall.
Lav Diaz erzählt wie immer erratisch, langsam, hypnotisch und auf Begegnungen fixiert, die jede für sich wieder neue Erzählungen anstossen, unerzählte, anerzählte.
Und einmal mehr schafft der philippinische Filmemacher eine Atmosphäre, die von Realität geprägt ist, aber nicht an ihr hängt.
Papaurans eigentliches Trauma ist die Polizeiarbeit unter Duterte, jenem Politiker, der zuerst als Bürgermeister von Davao City zu drastischen Mitteln griff, um Drogenhandel und Kriminalität zu reduzieren. Als Präsident der Philippinen zwischen 2016 und 2022 festigte er seinen zunehmend zweifelhaften Ruf mit Todesschwadronen und Mordkommandos.
Der Fund der Leiche eines angeblichen Drogenhändlers und die Begegnung mit dessen Frau und dem kleinen Sohn stehen denn auch gleich am Anfang von Essential Truths of the Lake. Und die anschliessende Begegnung mit der einstigen Studienfreundin und aktuellen Vorgesetzten führt verbal ein in die verschlungenen Schuldwege dieses Hermes.
Dass der Polizeimann den Namen des griechischen Götterboten trägt, kann Zufall sein, eben so wie seine spätere Begegnung mit einem einsilbigen verwaisten jungen Mann, der Achilles heisst.
Überhaupt kann vieles bei Lav Diaz Zufall sein, bedeutungsschwanger nach Bedürfnis. Aber nur schon die Kompositionen seiner schwarzweissen Tableaus sind dermassen betörend, dass man sich nur noch in Härtefällen oder nach einem kurzen Nickerchen im Kino (kann bei anderen Filmen passieren, MUSS bei Lav Diaz passieren) in die Zufalls- oder Beliebigkeitsthese flüchten kann.
Ja, Polizisten und Ermittler, die nicht loslassen können, deren Leben einem einzigen ungelösten Fall gehört, von denen gibt es viele im Kino und noch viel mehr im Fernsehen und in Serien.
Aber nur Lav Diaz schafft es mit seinem einzigartigen, gemächlichen, hypnotisch mäandrierenden Erzählfluss, dass ich diese Besessenheit zu meiner eigenen Rettung mache. Zumindest für die Dauer des Films.
Und das waren dieses Mal eben nur diese kurzen 215 Minuten.
Ach ja, die Kameradin Oberst, die weckt ihren Hermes jeweils auf, indem sie ein Tablett oder einen vollen Teller zu Boden fallen lässt. Worauf er in ironisch-ernsthafte Achtungsstellung springt.
So geht Lav Diaz.