NUIT OBSCURE – AU REVOIR ICI, N’IMPORTE OÙ von Sylvain George

‚Nuit obscure – Au revoir ici, n’importe où‘ © Noir Production Alina Film

Drei Stunden Überleben, in den Strassen von Melilla, in Schwarzweiss, ohne Kommentar.

Malik, Mehdi und die anderen marokkanischen Jungen sind in der spanischen Enklave gestrandet, träumen davon, sich auf ein Schiff nach Europa zu schmuggeln.

Was wir zu sehen bekommen, ist der Alltag von Strassenkindern mit einem Ziel und viel Härte.

‚Nuit obscure – Au revoir ici, n’importe où‘ © Noir Production Alina Film

Decken verstecken sie unter Gully-Deckeln. Geschlafen wird in halbwegs geschützten Löchern in den Wellenbrecherverbauungen rund um den Hafen, oder auf Bäumen im Park.

‚Nuit obscure – Au revoir ici, n’importe où‘ © Noir Production Alina Film

Das Leben, dass diese Jungen führen, wirkt meist ziellos. Zeitvertreib, rauchen, kiffen, saufen, Abfallkübel ausräumen.

Bisweilen wird gekocht, wenn jemand etwas Gemüse auftreiben kann. Es gibt so etwas wie ein Palettendorf hinter dem Stadtrand. Und eine Art Herberge, mit Gittern an den Fenstern, die offensichtlich nicht zu den bevorzugten Orten gehört.

‚Nuit obscure – Au revoir ici, n’importe où‘ © Noir Production Alina Film

Sie sind locker organisiert, einigermassen solidarisch, wenn die Langeweile nicht gerade in Streit ausartet. Sie teilen Geld, das Mobiltelefon, geklautes und gefundenes Essen.

Sie klettern andauernd über hohe Abschrankungen, Zäune, Stacheldraht, Mauern. Liefern sie Jagden und Scharmützel mit Wachleuten und der Guardia Civil.

Melilla ist nicht der Ort, an dem sie leben, das ist Transit. Auch wenn die Kamera sich immer wieder bemüht, die Stadt und ihre Vergangenheit mit ihren Bauten, Monumenten, Denkmälern ins Licht zu holen.

‚Nuit obscure – Au revoir ici, n’importe où‘ © Noir Production Alina Film

Wenn Malik und die anderen etwas nicht mehr brauchen, wird es weggeschmissen. Warum sollen sie Abfall, den sie aus dem Abfall gefischt haben, anschliessend wieder sauber entsorgen?

Was kümmert sie dieser Ort, an dem sie auf Durchreise sind.

Auch wenn im Verlauf der drei Stunden Film der Eindruck entsteht, dass viele von ihnen schon lange da und so leben, mindestens einen Sommer und einen Winter deckt Nuit obscure – Au revoir ici, n’importe où ab und löst seinen Titel dabei komplett ein.

In den letzten zwanzig Minuten bewegen sich die Jugendlichen durch die Weihnachtsdekoration der Stadt, hören bei der lebensgrossen Krippe den Lautsprechergeschichten von den Weisen aus dem Morgenland und der Geburt Jesu zu, staunend und unberührt zugleich.

‚Nuit obscure – Au revoir ici, n’importe où‘ © Noir Production Alina Film

Es gibt ein paar kleine Momenten, in denen sie sich von ihrer Herkunft und ihren Plänen erzählen. Das sind bei allen die gleichen Sätze. Keine Zukunft in Marokko, kein Ziel, keine Arbeit. In Europa dagegen…

Dieser Film gibt uns neue Bilder zu den Unmöglichkeiten, die wir längst kennen, die uns hilflos machen und abgestumpft.

Und er scheut sich auch nicht davor, die damit verbundenen Ängste anzusprechen:

Möchte ich diese noch nicht ganz erwachsenen Kinder mit ihrer Wut, ihrer Härte, ihrer Bedingungslosigkeit und der Welt, die sie zurückgelassen, abgestreift, hinter sich gelassen haben… möchte ich die in meiner Nachbarschaft?

Ganz am Ende des Films sehen wir Mehdi auf den Champs Elysées, älter geworden, aber mit dem gleichen Gesichtsausdruck, der wilden Frisur und dazu ein Gedicht von ihm, oder einem der anderen, dass genau diese Wut, diese Verlorenheit und diese Härte formuliert.

Nuit obscure – Au revoir ici, n’importe où zielt nicht auf unser längst abgestumpftes Mitleid, der Film konfrontiert uns mit viel mehr. Das ist ein riskanter Weg, aber ein wirkungsvoller.

Sylvain George © Remy Artiges

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