BIRD von Andrea Arnold

Bailey (Nykiya Adams) © Ad Vitam

Bereits drei Mal hat Andrea Arnold in Cannes den Jury-Preis gewonnen. Für Red Road (2006), Fish Tank (2009) und für American Honey (2016).

Mit Bird kehrt sie nun zurück zum Teenager-Lebenskampf von Fish Tank, allerdings reifer, balancierter und bisweilen gar polemisch-poetisch.

Wie in Fish Tank lebt die zentrale junge Frau in einer britischen Welt diesseits von Ken Loach, in der alles etwas kaputter, ausgeleierter, wilder und rauer daherkommt.

Bailey (Nykiya Adams) ist zwölf und lebt mit ihrem Halbbruder Hunter bei dem von Barry Keoghan gespielten Vater, Bug, in einem Squat, einer Wohnung in einem aufgegebenen Wohnblock.

Bug ist tätowiertes Energiebündel. Eben hat er eine kalifornische Kröte angeschleppt, der halluzinogene Schleimsekrete die Grundlage für einen kleinen Drogenhandel bilden soll. Ausserdem will er seine Freundin heiraten, die er nun schon seit drei Monaten kennt.

Das passt Bailey genauso wenig wie die Idee, sich in einem pinken Leotard als Brautjungfer an der Hochzeit beteiligen zu müssen.

Sie verfolgt lieber die lockere Gang, zu der ihr Bruder gehört. Die sind auf einem Vigilante-Trip, sie bestrafen Pädophile, Kinderquäler, Gewalttäter in kurzen, heftigen und vor allem maskierten Messerattacken.

Im Kontrast dazu ist der eigenartige Mann im Frauenrock, den Bailey auf der Pferdeweide antrifft, die lächelnde Sanftmut in Person – gespielt mit viel Charisma von Franz Rogowski.

Er stellt sich als Bird vor, ein Versprechen, das er halten wird.

Vögel, zumal Möwen, aber auch Krähen, beobachtet Bailey schon in den ersten Einstellungen des Filmes mit Hingabe. Sie filmt die Flüge mit ihrem Telefon und projiziert sie zuhause mit einem Taschenbeamer an die Wand über ihrer Matratze.

Das gibt Andrea Arnold eine plausible Möglichkeit mit den Mobilvideos des Mädchens leinwandfüllend zu spielen, die vertikalen Clips an der Zimmerwand entfalten einen eigenen Reiz: Gerade beim Möwenflug wirken sie wie eine Öffnung vom Wohnchaos in die Himmelsfreiheit.

Je härter die Filmgeschichte wird – Bailey stellt beim Besuch bei ihrer Mutter und ihren kleinen Halbgeschwistern fest, dass sich Skate, der neue Freund der Mutter, wohl an den Kleinen vergreift – desto häufiger stellt Arnold ihrer Protagonistin die magischen Möglichkeiten des Kinos zur Verfügung.

Die verblüffendste dieser Szenen ist der Moment, in dem die Zwölfjährige eine Nachricht ihres Bruders an dessen Freundin in die Luft hält und sie von einer Krähe zu dieser auf den Balkon tragen lässt, ganz beiläufig.

Und auch «Bird» Rogowski, der zuerst die Flucht ergreift angesichts des gewalttätigen Skate und Bailey gegenüber bedauert, nicht der Superheld zu sein, den sie sich vielleicht erhofft hatte, auch der ist mehr als nur der friedlichste Mensch im chaotischen aktuellen Leben des Mädchens.

Andrea Arnold hat ihren eigenwilligen Weg gefunden, das soziale Engagement eines Ken Loach in eine zeitgemässe und sehr weibliche Form zu transferieren.

Inhaltlich weist Bird eine gewisse Verwandtschaft mit Diamant brut auf, gerade im Blick auf die junge Frau im Zentrum. Aber formal ist Arnold mit ihrer langjährigen Erfahrung und ihren bisherigen Filmen dem starken Erstling von Agathe Riedinger weit überlegen.

Und doch wirken die beiden Filme nicht wie die Konkurrenten, zu denen sie der Wettbewerb von Cannes macht, sondern eher wie eine grosse und eine kleine Schwester mit einer gemeinsamen wilden, warmen Vision.

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