Die ersten Bilder wirken experimentell und expressionistisch. Gesichter in Schwarzweiss überlagern sich, werden zu Fratzen, die Tonspur ist beunruhigend.
Magnus von Horns neuer Spielfilm (nach seinem polnischen Sweat) ist wieder eine dänische Produktion, wie sein erster, The Here After.
Wieder geht es um eine junge Frau, Karoline (Vic Carmen), die in der ersten Sequenz von ihrem Vermieter nicht ohne Bedauern aus ihrer Wohnung gejagt wird, weil sie die Miete nicht mehr bezahlt hat.
Ihr Ehemann Peter ist verschwunden in den Schlachtfeldern des ersten Weltkriegs; Nachricht hat sie keine, Witwenzuschlag bekommt sie keinen in der Kleiderfabrik in der sie arbeitet, weil sie keine Todesurkunde vorweisen kann.
Dafür wirft der Fabrikchef ein Auge auf die Frau, umwirbt sie, sehr galant, sehr zurückhaltend. Sie schöpft Hoffnung, wird schwanger.
Da taucht plötzlich ihr Mann wieder auf, entstellt, verkrüppelt, mit einer grotesken Halbmaske über dem zerfetzten Gesicht. Sie jagt ihn entsetzt davon, hofft auf die Heirat mit dem Fabrikbesitzer.
Die aber wird eiskalt verhindert von dessen Mutter, der das Vermögen, die Fabrik und der Familienname tatsächlich gehört.
Es sind nicht nur die realistisch dreckigen Bilder in Schwarzweiss, welche diesem Film die Anmutung eines Dickens-Romans geben. Das Elend, die Härte, die auf sich gestellten Menschen in einer erbarmungslosen Welt, das nimmt tatsächlich wie bei Dickens archetypische Dimensionen an, auch wenn The Girl with the Needle am Ende des ersten Weltkriegs angesiedelt ist.
Die Ausstattung und die Drehorte wirken realistisch, erinnern aber auch an den Expressionismus des deutschen Stummfilms und an die Kulissen der frühen Chaplin-Filme, etwa The Kid.
Magnus von Horn hat allerdings andere Assoziationen ins Feld geführt. In seinem Film, sagt er, treffen wir eine arme Frau, die in einer Dachkammer wohnt, einen Prinzen auf einem weissen Pferd trifft, der sich als Feigling entpuppt, ein Monster ohne Gesicht, aber mit einem Herzen aus Gold und schliesslich eine Hexe in einem Süssigkeiten-Laden.
Die Hexe, das ist Trine Dyrholm, die grossartige dänische Schauspielerin für die schwierigsten Rollen. Die Dagmar, die sie spielt, führt tatsächlich einen Laden für Delikatessen. Vor allem aber nimmt sie verzweifelten jungen Frauen ihre neugeborenen Kinder ab, gegen ein Entgelt, und vermittelt sie an adoptionswillige Eltern «mit genügend Geld, um Gutes zu tun».
Auch Karoline lernt Dagmar kennen. Im öffentlichen Frauenbad, wo sie ihre Schwangerschaft mit der Stricknadel des Filmtitels beenden will.
Dagmar hat viel Verständnis für die Verzweiflung ihrer Kundinnen; sie präsentiert sich als das Gegenteil einer Engelmacherin, als Vermittlerin des Lebens und der Hoffnung. Für Karoline wird sie zu einer Verbündeten gegen die Härte des Schicksals.
The Girl with the Needle ist ein historisch-realistisches Sozialdrama mit Anflügen von Horror. Im Kern geht es um den Wert und den Preis der Illusion. Und um die noch immer ausgesprochen gegenwärtige Frage, was wir mit den Ungewollten und Unerwünschten tun sollen.
Er habe mit dem Film versucht herauszufinden, ob man auch in der Hölle noch gut sein könne, sagt der Regisseur.
Und dafür hat er einen wunderbaren Schluss gefunden für eine abgründig schreckliche Geschichte.