Anora, genannt Ani, ist eine junge Stripperin, Lap-Dance- und Gelegenheits-Escort-Frau, die sich – gegen Bezahlung, aber auch aus Sympathie – auf eine wilde Woche mit dem verzogenen, aber charmanten, fröhlichen und grosszügigen Sohn eines russischen Oligarchen einlässt, in einer Villa auf der Vergnügungsinsel Coney Island.
In den ersten Szenen im Strip-Club gibt sie schon ihrem Boss den Tarif durch: Ani lässt sich nichts gefallen, kennt ihre Arbeitsrechte und fordert sie auch ein.
Am Ende der Woche steht ein Privatjet-Ausflug mit der Entourage des Jungen nach Las Vegas, wo die wilde Liaison in eine Las-Vegas-Heirat mündet.
Das ist der Höhepunkt eines fünfundvierzigminütigen wilden Party-Ritts, dessen Sinn sich tatsächlich erst danach erschliesst.
Dann aber geht es Schlag auf Schlag. Denn diese Hochzeit des Filius mit einem «Schmetterling der Nacht», wie sich der Oligarch ausdrückt, oder einfach einer Hure, als die sie die Mutter des Jungen bezeichnet, ruft zuerst einmal die Aufpasser vor Ort auf den Plan und dann den Anflug der Eltern.
Das wäre einigermassen dramatisch und absehbar, hätte sich Sean Baker nicht einmal mehr auf einen positiven Blick eingestimmt: Ani wehrt sich dermassen eklatant gegen die Aufpasser und deren Handlanger, dass nicht nur ein guter Teil des Mobiliars in Brüche geht, sondern auch das Ego dieser armenischen Tough-Guys angesichts dieser jungen Frau und ihrem unerschütterlichen Glauben an die eingegangene Ehe.
Das Drama erzählt Baker schliesslich als Komödie, was nur teilweise gelingt – in den gelungenen Momenten aber grossartig.
Das ein Filmemacher den Mut hat, lange offen zu lassen, welchen Ton er anstrebt, was für eine Geschichte er zu erzählen gedenkt, das spricht durchaus für die Experimentierfreude, die Sean Baker immer wieder bewiesen hat.
Anora ist eine Schwester im Geist der jungen Helding aus Bakers 2012 am Filmfestival Locarno präsentierten Starlet.
Und den positiv-fröhlichen Zugang zur halbseidenen Welt der Sexunterhaltung, den hat er auch mit Red Rocket schon erfolgreicher ausprobiert.
Anora löst nur bedingt ein, was Baker wohl vorgeschwebt hat, die perfekte Balance von Drama und Komödie, wie sie etwa Billy Wilder perfekt beherrschte.
Aber neben den paar zündenden Momenten, die wirklich funktionieren, sind es vor allem zwei der jungen Darsteller, bei denen am Ende die Sympathie liegt. Die sind grossartig.
Mikey Madison in der Titelrolle ist eine liebenswerte Energieschleuder mit explosivem Talent. Und der als Mann fürs Grobe vom Aufpasser mitgebrachte «Gopnik» wird gespielt vom unglaublich charismatischen Yura Borisov, der schon mit Hytti Nro 6 (compartment No. 6) 2021 zu den Highlights von Cannes gehörte.
The Florida Project wird mindestens bis zu Bakers nächstem Film weiterhin sein grösster Treffer bleiben.
Anora ist aber ein weiterer erfreulicher Versuch, einen Film jenseits der Konventionen zu machen. Nicht ganz gelungen, aber vielleicht gerade darum nicht leicht abzuschütteln.
Ich mochte ja „The Florida Project“ sehr, auch weil das authentische Setting und die sympathischen Figuren so extrem gut funktionieren. Werde mir „Anora“ sicher anschauen, um selbst zu erfahren, ob Sean Baker hier noch einmal solch ein Wurf gelingt. Anscheinend ja nicht, wie du schreibst…