So fängt kein Disney-Film an, und auch keines der Wallace & Gromit-Animationsfeste: Das rasselnde Keuchen auf der Tonspur kommt von der sterbenden Pinky (Jacki Weaver); die Titelheldin des Films sitzt neben ihr am Bett und hält ihr die Hand.
Es ist eine typische Szene aus dem Leben von Gracie, die mit diesem Film zurückblick auf ein Leben voller Ängste, Verlust und Unsicherheit.
Und es ist eine typische Szene aus dem Werk von Adam Elliot, der die Stop-Motion-Animation perfektioniert hat, um Leid und Schrecken mit wundersamer Selbstverständlichkeit als integralen Teil des menschlichen Lebens zu etwas erfreulichem zu machen.
Der Australier, der mit seinem Kurzfilm Harvie Krumpet von 2003 einen Oscar gewann und mit dem Langfilm Mary and Max von 2009 die Herzen des Publikums und die Begeisterung der Kritiker, maximiert mit seiner Kunst das Prinzip der Creature Comforts von Wallace & Gromit-Erfinder Nick Park.
Die Erinnerungen der selbsternannten Schnecke Gracie, der unsicheren, von Geburt auf mit einer Hasenscharte verunstalteten Zwillingsschwester des mutigen und leidenschaftlichen Gilbert, kommen als Off-Kommentar (gesprochen von der unvergleichlichen Sarah Snook) so realistisch daher, wie seinerzeit die Originalaufnahmen realer Alltagsmenschen, die Nick Park seinen mit Plastilin animierten Zootieren in den Mund legte.
Und wie bei Nick Park ist es der Kontrast zwischen den liebevoll detailreich angelegten Animationsszenen und den herzzerreisenden Erzählungen vom frühen Tod der Mutter, dem Alkoholismus des rollstuhlgefesselten Vaters und schliesslich die gewaltsame Trennung der Zwillinge durch das Sozialamt, welcher packt und direkt zu Herzen geht.
Zugleich sind es die rückblickende Distanz und die unverbrämte Klarheit von Gracies Blick auf sich selber, welche Memoir of a Snail zu einem Film für Erwachsene machen.
Zwar gibt es durchaus Szenen, welche nie das Familientauglichkeitskriterium des Disney-Marktes erfüllen würden. Aber mit diesem Feuer haben ja schon andere Animateure gezielt gespielt, etwa Katzenbergs Shrek-Verwirbler Andrew Adamson und Vicky Jenson.
Aber zur grossen Kunst des echten Dramas findet Adam Elliot mit der eingebauten Distanz des Films zu sich selbst, mit der Ironie in der Bild/Story-Schere, die nie in Zynismus abkippt, aber auch nie in die sentimentale Suhle.
Schon der Anekdotenreichtum von Gracies Erzählung fordert mich als Zuschauer und Zuhörer wie perfekte Actionsequenzen in einem Thriller. Und dazu gesellt sich der animierte Bildwitz auf allen Ebenen, der eine noch so kurze Pinkelpause für die Dauer von 95 Minuten schlicht verunmöglicht.
Elliott begnügt sich nicht mit der Bild-Text-Schere, die etwa Gracies Angst um ihren Zwillingsbruder betont, als dieser mitten im grössten Verkehr auf die Strasse rennt, um eine Schnecke zu retten. Da rast dann auch noch ein Auto subjektiv auf Gilbert zu mit einem Nummernschild, auf dem I ♥ 2KILL zu lesen ist.
Natürlich überleben sowohl Gilbert wie auch die zu rettende Schnecke. Aber in einem Film, der Tod und Sterben gegenüber nicht die geringsten Berührungsängste zeigt, bekommt auch so eine Standardsequenz ein eigenes Gewicht.
Adam Elliot erweitert die Möglichkeiten der traditionellen Stop-Motion-Animation und geht zugleich enorm ökonomisch mit seinen Mitteln um. So sind etwa kaum je Beine in Bewegung zu sehen, viele der besonders aufwändigen Bewegungselemente werden durch raffinierte Kamerapositionswechsel ersetzt.
Auch den Puppenstubeneffekt anderer Animationsfilme vermeiden Elliot und sein Team, hauptsächlich wohl durch Blickachsen auf Augenhöhe mit den Protagonistinnen.
Zudem werden digitale Effekte, so sie überhaupt zum Einsatz kommen, etwa bei Feuerszenen, klar «analogisiert», der Film wirkt gezielt handgemacht.
«This Film was made by human beings» deklariert der Abspann, ein klares Bekenntnis auf der ganzen Linie, gerade auch im Hinblick auf die unendlichen neuen Möglichkeiten der KI-generierten Sznenen, die uns im digitalen Alltag zunehmend überschwemmen.
Und eindrücklich ist auch die Liste der «human beings» beim sogenannten «voice talent», also den Frauen und Männern, welche den animierten Figuren in Memoir of a Snail mit ihren Stimmen das Leben einhauchen. Da sind nicht nur prominente Stimmen wie die von Eric Bana zu hören oder der französische «Character-Actor» Dominique Pinon, sondern auch ungewohnt vertraute Stimmen wie die von Sänger Nick Cave.
Memoir of a Snail ist ein weiterer Instant-Klassiker des Kinos und wie die meisten der wirklich guten Animationsfilme ein ziemlich zeitloses, alterungsbeständiges Kunstwerk.
Eine traurige, hoffnungsvoll komische Erzählung mitten aus Leben und Sterben.