JUROR #2 von Clint Eastwood 

Leslie Bibb, Nicholas Hoult, J.K. Simmons, Onix Serrano, Adrienne C. Moore, Phil Biedron, Drew Scheid, Hedy Nasser, and Chikako Fukuyama in ‚Juror #2‘ © 2024 Warner Bros.

Clint Eastwood ist berühmt für seine lakonischen Figuren und für seine eben so lakonischen Regieanweisungen. Er ist nicht nur sparsam mit Worten, sondern auch als Produzent. Mehr als einen oder zwei Takes fordere er selten bei Dreharbeiten, behaupten seine Schauspielerinnen und Schauspieler. 

Seinem jüngsten Film, dem Gerichtsdrama Juror #2, kommt die Sparsamkeit zugute. Jede Einstellung sitzt, keine ist länger als absolut notwendig, und jede einzelne trägt ein Puzzleteil zum höchst komplexen Gerichtsdrama und dem dahinterliegenden Kriminalfall bei. 

Justin Kemp (Nicholas Hoult, der sich von den Nosferatu-Attacken offensichtlich gut erholt hat) spielt einen werdenden Vater und erst seit kurzem trockengelegten Alkoholiker, der als Jurymitglied aufgeboten wird.  

Bei der Schilderung des Falles – ein Mann ist angeklagt, seine Freundin in einer stürmischen Regennacht nach einem Streit in einer Bar umgebracht und ins Bachbett neben der Strasse gestossen zu haben – kommen bei Kemp Erinnerungen hoch. Er war in der fraglichen Nacht in der gleichen Bar. Und er hat im peitschenden Regen ein Wildtier gerammt auf der Strasse. So hat er es jedenfalls in der Erinnerung. 

Nun kommen ihm Zweifel an der Schuld des Angeklagten. Gleichzeitig rät ihm sein Anwalt (Kiefer Sutherland in einer winzigen, aber wichtigen Nebenrolle) auf jeden Fall auf eine Verurteilung des Angeklagten hinzuwirken, weil Kemp als trockener Alkoholiker nicht die geringste Chance hätte auf einen fairen Prozess, sollte er sich selber ins Spiel bringen. 

Das Prinzip des Courtroom-Dramas, ein etabliertes Kino-Ritual seit 12 Angry Men, hält Eastwood durchaus hoch. Die Diskussionen der Jury sind realistisch, dramatisch und in aller Knappheit ausgesprochen spannend. 

Gleichzeitig kombiniert das Drehbuch aber das Courtroom-Drama mit einer Investigation, zuerst durch ein von J.K. Simmons gespieltes Jury-Mitglied, das sich als ehemaliger Polizist zu erkennen gibt, und dann gar durch die ehrgeizige Staatsanwältin mit dem sprechenden Namen Faith Killebrew (grossartig wie immer: Toni Collette). 

Toni Collette und Nicholas Hoult in ‚Juror #2‘ © 2024 Warner Bros.

Eastwood hämmert aber nicht nur Einstellung für Einstellung neue Fakten ins Gefüge, er schafft auch mit eben so sparsamen wie effizienten Szenen ungemein viel Stimmung und Hintergrund für seine Hauptfigur. 

Er scheut sich nicht vor plakativem Symbolismus, indem er mehrfach die Statue der Justitia vor dem Gerichtsgebäude in kurzen, passend geframeten Einstellungen zeigt. 

Und er schafft es sogar, seinen Minimalismus durch so etwas wie eine Selbstdeklaration zu einem weiteren Überzeugungsfaktor zu machen. Etwa mit einer kurzen Szene vor dem ersten Gerichtstermin, in welcher die Staatsanwältin beim Aussteigen aus ihrem Mercedes ihr Mobiltelefon fallen lässt, das ihr Jury-Kandidat Justin Kemp zuvorkommend wieder in die Hand drückt. Eine Szene, die als erste Begegnung der beiden absolut zufällig wirkt, aber dank Eastwoods Sparsamkeit eine eigene Bedeutung bekommt: Wenn der Mann das extra inszeniert hat, muss es später im Gefüge des Films eine retroaktive Bedeutung bekommen. 

So geht Meta bei einem No-Nonsense-Regisseur wie Eastwood. 

Clint Eastwoods Regie-Mentor Don Siegel wäre wohl stolz auf seinen Zögling, angesichts der überaus effizienten und durchschlagskräftigen 114 Minuten dieses Gerichtsdramas. 

Juror #2 ist wahrscheinlich der letzte Film von Regisseur Clint Eastwood, der im kommenden Mai 95 Jahre alt wird. Und wenn es so wäre, dann wäre es ein würdiger Abschluss.  

Das ist erfreulich, denn Eastwoods letzter Film, Cry Macho von 2021, litt gleich mehrfach unter Altmännersyndrom. Das war einerseits ein Drehbuch, welches Eastwood schon jahrzehntelang hatte umsetzen wollen – was auch erklärt, warum seine Hauptfigur Mike Milo sich alles in allem deutlich jünger gebärdet als Darsteller Eastwood aussieht – auch wenn das adaptierte Drehbuch das zu kaschieren versucht.

Und andererseits tat sich Regisseur und Produzent Eastwood auch keinen Gefallen damit, dass er den Hauptdarsteller Eastwood trotz real fortgeschrittenem Alter und drehbuchbedingtem Alkoholismus als noch immer potenten Liebhaber einer 35 Jahre jüngeren Witwe inszenierte… 

Clint Eastwood and Natalia Traven in Cry Macho (2021) © Warner Bros.

Juror #2 dagegen ist «lean and mean» wie es in Eastwoods angestammten Western-Jargon heissen würde, mager und angriffig.

Zugleich ist er alles andere als verbrämt im Umgang mit seinen didaktischen Mitteln. Die us-amerikanische Gerichtsbarkeit, die Eastwood hier zeigt, die entspricht der politisierten Gegenwart, der Ahnung, dass auch in den Gerichten Kräfte am zerren sind, die von externen Motiven bestimmt werden.

Und doch bleibt Eastwood Eastwood; mit seiner Ambivalenz, mit seinen Hinweisen darauf, dass Gerechtigkeit und Gericht nicht immer deckungsgleich sein können oder müssen, passt der Film zu Eastwoods lebenslanger gezielter Uneindeutigkeit. 

Dirty Harry, der Mann ohne Namen oder Bill Munny, der Racheengel aus Unforgiven: Sie alle standen breitbeinig über der dünnen Linie zwischen Recht und Gerechtigkeit. Aber je älter Eastwood wurde, desto näher kam ihm wohl auch das Prinzip von live and let live. 

Nicholas Hoult mit Regisseur Clint Eastwood auf dem Set © 2024 Warner Bros.

Im Kino in der Deutschschweiz ab 16. Januar 2025

 

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