
Die Food-Velokuriere mit ihren farbigen Isoboxen auf dem Gepäckträger nehmen wir längst eher als Teil der Kulisse wahr, denn als Menschen mit einer eigenen Geschichte.

Darum gab mir eine Szene in Boris Lojkines jüngstem Film einen regelrechten Stich ins Herz: Die junge Frau, die Velokurier Souleymane die zu transportierende Bestellung durchs Fenster des chinesischen Restaurants auf den Gehsteig reicht, fragt ihn, ob er vielleicht noch ein Bonbon wolle? Erdbeere? Souleymane nimmt dankbar lächelnd an, bevor er sich wieder in den Sattel schwingt und weiter in rasendem Tempo durch das nächtliche Paris strampelt.
Die meisten Restaurantbetreiber sind gehetzte Bremsklötze im durchgetakteten Arbeitsalltag der Velokuriere, und die bestellenden Kundinnen und Kunden gefährliche Auftraggeber, denn sie können die fast durchweg illegal arbeitenden Food-Sklaven mit einem Negativwisch auf der Bestell-App um Job und Verdienst bringen.
Die Szene mit der freundlichen jungen Frau und der ebenso freundlich dankbaren Reaktion von Souleymane kommt in der neunzehnten Minute eines Films, der einen an der Seite seines Protagonisten schon nach den ersten paar Minuten atemlos durch Paris hetzt, mit überraschend ruhigen Einstellungen.

Das ist ein künstlerisches Paradox, und es zeigt, mit welcher Sorgfalt der einstige Philosophielehrer Boris Lojkine seine filmische Regiearbeit angeht. Er kombiniert den dokumentarischen Eindruck des klassischen «cinéma vérité» mit den ausgefeilten technischen Mitteln des fiktionalen Kinos.
Dabei bezieht er sich explizit auf Vorbilder wie den Rumänen Cristian Mungiu, der mit 4 luni, 3 săptămâni și 2 zile 2007 die für das europäische Kino revolutionäre rumänische Welle eingeläutet hatte.
Der Film funktioniert ohne Musik, die Kamera von Tristan Galand bleibt ruhig, die Einstellungen auf Souleymane-Darsteller Abou Sangare sind meist mit dem Abstand gewählt, wie wir ihn im Alltag zur Vermeidung von physischer Aufdringlichkeit einhalten würden – und nicht etwa mit dem zwanghaft verschmelzenden Über-die-Schulter-Blick, wie er das ansonsten ähnlich angelegte Kino der Dardenne-Brüder mit dem gleichen Kameramann oft bestimmt.

Lojkine hat sich mit seiner Ko-Autorin Delphine Agut und mit Aline Dalbis, einer ehemaligen Dokumentarfilmerin und heutigen Casting-Direktorin in wochenlangen Recherchen kundig gemacht über den Alltag der Kuriere in Paris.
Viele stammen aus der ehemaligen französischen Kolonie Guinea, viele sind illegal eingereist und hoffen, wie Souleymane, auf einen positiven Asylbescheid, auch wenn die Gründe für ihren Aufbruch nach Europa oft nicht dem entsprechen, was Europa als Fluchtgrund definiert hat: Bedrohung an Leib und Leben aus politischen, ethnischen oder religiösen Gründen.
Souleymane funktioniert in diesem Film exemplarisch. Die Geschichte des Filmtitels ist nicht nur die persönliche «histoire de Souleymane», sondern auch die erfundene Geschichte eines politisch verfolgten Aktivisten, die er sich von einem Landsmann diktieren und mit gefälschten Papieren illustrieren lässt, gegen Bezahlung, und mit etlichen Schwierigkeiten auswendig zu lernen versucht.
Um sich diesen Hintergrund leisten zu können, muss Souleymane arbeiten. Und das geht nur illegal, mit dem Kurier-Account und der App eines weiteren Landsmannes, der die Notlage der Neuankömmlinge schamlos ausnutzt und ihnen bestenfalls einen kleinen Teil des Verdienstes tatsächlich weitergibt.

Boris Lojkine schafft mit seinem Laiendarsteller Abou Sangare das überzeugende Wunder eines emotional aufwühlenden Spielfilms mit dokumentarischer Präzision. Wir lernen in kürzester Zeit und direkt aus der Praxis heraus die Probleme und horrenden Schwierigkeiten kennen, mit denen sich tausende von Menschen in unseren Ländern abmühen, unter unseren Augen, aber ohne unsere tatsächliche Wahrnehmung.
L’Histoire de Souleymane ist beileibe nicht der erste Film, der uns Migranten als Menschen zeigt. Wir sind Schreckliches gewohnt, aus Dokumentar- und aus Spielfilmen der letzten Jahrzehnte. So sehr, dass ich mich dabei ertappte, mit vorzustellen, dass es Souleymane ja noch viel schlimmer ergehen könnte im Verlauf des Filmes.
Und so sehr, dass ich mit erschreckender Emotionalität auf die Eingangs erwähnte kleine Szene der Menschlichkeit reagiert habe.
Genau das macht diesen Film so stark: Er setzt nicht auf die klassische Emotionalisierungsstrategie, die von Hollywood perfektionierte Geschichte des grossartigen Underdogs, der es dank seiner Einzigartigkeit gegen alle Widerstände schliesslich schafft.
Boris Lojkine erzählt die Geschichte eines Mannes, der aus Verzweiflung lügt, sich dabei verliert und schliesslich in noch mehr Verzweiflung wiederfindet. Und wir reagieren darauf für einmal nicht wie pawlowsche Kinohunde mit Rührung und Schrecken und schnellem Vergessen, sondern mit der Erkenntnis, das wir um den Schrecken ja wissen, dass uns unerwartete Freundlichkeit gegenüber dem Protagonisten aus der filmischen Bahn werfen kann, und dass die Kulisse, die wir da sehen, die Welt ist, in der wir leben.
Der Film kommt ab 16. Januar 2025 via trigon-Verleih ins Kino