WIR ERBEN von Simon Baumann

Stephanie und Ruedi Baumann © filmcoopi

Nach zwei Dritteln dieses Dokumentarfilmes fällt dieser hinreissende Halbsatz, der uns, unser Land, die Schweiz, in perfekter Offenheit erfasst:

«Die angeri Mehrheit…»

Die «andere Mehrheit», also jene Hälfte der Beteiligten, deren Meinung knapp unterlegen ist, deren Stimmen ein winziges bisschen weniger zum Tragen gekommen ist. In dieser anderen Mehrheit findet sich in unserer Demokratie immer wieder (fast) die Hälfte der sogenannten «Stimmbevölkerung».

Zum Beispiel mit der Abstimmung zur Konzernverantwortungsinitiative von 2020, welche trotz einem Ja-Stimmenanteil von 50.73% via Ständemehr abgelehnt wurde.

Quelle: swissvotes.ch

Abgebildet wird das in Wir Erben über die jeweilige Hälfte der direkt in die Diskussion involvierten Familienmitglieder der Baumanns.

Mutter Stephanie und sowie der Sohn und Filmemacher Simon meinen, der Hof, den die Eltern in Frankreich gekauft und über 25 Jahre hinweg bewirtschaftet haben, könnte verkauft (oder gar verschenkt) werden, wenn die beiden ihr abgeschiedenes Leben dort schliesslich altershalber aufgeben.

Vater Ruedi sowie der Sohn (und Simons Bruder) Kilian dagegen sind entschlossen der Meinung, der Hof müsse im Familienbesitz bleiben.

Familienrat mit den Söhnen und den Schwiegertöchtern © filmcoopi

Der an seiner Oberfläche so einfach scheinende Dokumentarfilm Wir Erben trifft seit seiner Uraufführung im Rahmen der Kritikerwoche am Filmfestival von Locarno im letzten Sommer das Herz (und die Nerven) des Schweizer Publikums, wo immer er gezeigt wird.

Ein Grund dafür ist seine generationenübergreifende Konsequenz: Die Baumanns, die Eltern, wie auch ihre in die Jahre gekommenen Kinder, befinden sich genau dort, wo wir uns derzeit alle befinden. Mitten im entscheidenden Umbruch wirtschaftlicher, politischer und ökologischer Entwicklungen, welche sich heftiger auf die Zukunft auswirken als jene der letzten 50 Jahre.

© filmcoopi

Das zeigt sich nicht zuletzt an der Ausgangsposition der jeweiligen Generationen. Stephanie und Ruedi Baumann waren soziale Aufsteiger, Rebellen und Visionäre zugleich. Als grünes Bauern- und Politikerpaar haben sie progressive und visionäre Positionen vertreten und gleichzeitig prosperiert, Besitz «angehäuft», wie es Simon einmal umschreibt.

Die Generation der Söhne dagegen gehört einerseits zu den Nutzniessern der sozialen und politischen Errungenschaften, von Bildungs- bis zur Kulturförderung, andererseit aber auch zur ersten Generation, der es nicht mehr möglich sein dürfte, mit sozial vertretbaren Mitteln den Familienbesitz, das «Erbe» zu vergrössern. Was sie nicht nur zu Wir Erben macht, sondern auch dazu zwingt, sich grundsätzlich mit der Sozialverträglichkeit der privilegierten Position auseinanderzusetzen.

Die Baumanns von früher © filmcoopi

Dass es Simon Baumann mit diesem Film gelungen ist, das Persönliche und das Private hinreissend, manchmal komisch, manchmal schmerzlich, öffentlich zu machen, erhebt den Film zum Zeitdokument und macht ihn gleichzeitig zu einem grossen, exemplarisch einsichtigen Kinovergnügen.

Im Kino ab 30. Januar 2025, via filmcoopi
und mit diversen Spezial-Veranstaltungen

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