ON BECOMING A GUINEA FOWL von Rungano Nyoni

Susan Chardy als Shula © trigon

Man muss seiner Sache schon sehr sicher sein, um mit den ersten 15 Minuten eines Filmes vor allem Fragen aufzuwerfen.

Warum trägt die Frau mit den perfekt geschminkten Lippen am Steuer ihres Mercedes eine glitzernde Maske auf dem Kopf? Warum wirft sie bloss einen kurzen Blick auf den toten Mann, der auf der nächtlichen Strasse liegt, und ruft dann nicht etwa die Polizei an, sondern ihren Vater? Warum trägt die Frau ein ballonartiges Kostüm, mitten in der Nacht, auf einer kleinen Vorortstrasse in Sambia?

Und warum nennt sie den Toten «Onkel Fred»?

© trigon-film

Die 42-jährige sambisch-britische Regisseurin Rungano Nyoni ist sich ihrer Sache absolut sicher. Und unsere Fragen sind eines der Treibmittel ihrer filmischen Erzählung.

Die Frau am Steuer des teuren Autos heisst Shula (Susan Chardy). Das erfahren wir aus dem fragmentierten Telefongespräch mit ihrem Vater, den sie offenbar mitten in einer trinkseligen Party erwischt. Der Vater bittet seine Tochter erst mal darum, ihm mehr Geld zu überweisen.

Dann erklärt er, das sei doch typisch für Onkel Fred, sie solle ein wenig Wasser über ihn giessen, dann stehe er schon wieder auf. Und dann besinnt er sich anders, weist seine Tochter an, unbedingt im Auto zu bleiben. Er komme so schnell wie möglich. Und ob sie ihm das Geld für das Taxi überweisen könne?

Nsansa (Elizabeth Chisela) ist aus gutem Grund meist betrunken © trigon

Der Vater taucht dann doch nicht auf. Dafür Cousine Nsansa (Elizabeth Chisela), stockbetrunken, mit der Flasche in der Hand, aufgetakelt und aufgekratzt. Ja, das sei Onkel Fred, der da auf der Strasse liege. Und Shula solle doch die Polizei anrufen, in ihrem Zustand wäre das nicht ideal, meint Nsansa.

Da hinten, das sei übrigens ein Bordell, erklärt sie zudem, und kugelt sich vor Lachen: «The big man has died a happy man!»

Die Polizei erklärt dann am Telefon, die Frauen sollten sich doch gedulden. Ihr Einsatzfahrzeug sei gerade im Einsatz, man komme, sobald es hell sei. Und es sei ja eh schon fast Morgengrauen.

Mit On Becoming a Guinea Fowl setzt Rungano Nyoni wie schon bei ihrem Erstling I Am Not a Witch (2017) auf einen gezielt irritierend komödiantisch-satirischen Ton. Ging es damals um die achtjährige Shula, die der Hexerei bezichtigt und von den Behörden in ein Hexenlager gesteckt wurde, sind im neuen Film die Themen familiärer und universeller. Aber nicht weniger irritierend.

© trigon

Denn nicht nur Shula (dass die Hauptfigur wieder diesen Namen trägt, ist sicher kein Zufall), sondern auch Nsansa und diverse weitere Cousinen, allen voran die junge Bupe (Esther Singini), sind keineswegs traurig über den Tod von Onkel Fred. Da können die vielen Mütter und Tanten des Clans noch so auf Schicklichkeit und Tradition pochen: Unter sich reden die Cousinen bald Klartext, denn Fred hat sich an jeder von ihnen vergriffen, wurde von der ganzen Familie gedeckt und konnte sich offensichtlich über Jahrzehnte hinweg austoben.

Jetzt aber wird getrauert und gefeiert wie es sich gehört, und dazu gilt auch in diesen Familien der Grundsatz de mortuis nil nisi bene – zumal es ja offensichtlich schon zu Lebzeiten des Toten galt, nichts Schlechtes über ihn zu verbreiten.

Es ist ein faszinierend verwobenes Sozialgefüge, welches Nyoni hier in seiner ganzen Unseligkeit aufscheinen lässt. Und – obwohl lokalisiert und verwurzelt im Stammes- und Clansystem von Sambia – ist doch spürbar, dass damit globale Gesellschaftsmechanismen gemeint sind.

Nsansa und Shula © trigon

Shula und ihre Cousinen sind eingebettet in ein hierarchisches Familiensystem, das Geborgenheit und Zugehörigkeit bietet, aber zu einem hohen Preis. Nichts darf den Frieden stören, Eindringlinge wie die junge Witwe des verstorbenen Fred werden samt deren Familie systematisch wieder ausgestossen, und alle, alle halten sich an die Spielregeln.

Auffällig dabei: Es sind die älteren Frauen, die das System erhalten und beschützen. Die Männer werden bedient, verwöhnt, ehrerbietig toleriert. Auch hier baut Nyoni eine Art Meta-Kommentar ein, indem Shulas liebenswürdiger, aber passiver und nicht gerade durchsetzungsstarker Vater vom gleichen Henry B.J. Phiri gespielt wird, der in I Am Not a Witch den Regierungsbeamten spielte, der, in reiner, fast passiver Pflichterfüllung, die Überführung der kleinen Shula ins Hexencamp einleitete.

Shula ist dabei auch im neuen Film Insider und Outsider zugleich, die ideale Figur, um das Kinopublikum in die Clan- und Machtstrukturen einzuführen. Es wird zwar nie klar gesagt, aber alles deutet darauf hin, dass sie studiert hat, eine gutbezahlte Stelle, wohl bei einer NGO, was nur einmal kurz über eine Videokonferenz angedeutet wird.

© trigon

Das bedeutet aber auch: Shula hat Geld, Bildung und eine Aussenperspektive. Zugleich kommt sie nicht los von den familiären Verpflichtungen und den eigenen schmerzlichen Erinnerungen. Sie unterwirft sich dem Diktat dessen «was sich gehört» so lange, bis der Film, der zunehmend beklemmend wird, in einem eigentlichen Familientribunal kulminiert.

Da endlich kommt der Titel zum Tragen, dessen eigentliche Bedeutung zuvor schon schrittweise eingeführt worden war.

Rungano Nyoni erzählt On Becoming a Guinea Fowl mit diesem meisterlichen Oszillieren zwischen etablierten abendländischen Kinoformen und dem Raunen und Flüstern eines magischen Denkens, von dem ich als Zentraleuropäer nie genau sagen kann, ob es lächelnd meine Klischeevorstellungen bedient, oder aus dunklen Wurzeln wächst, von denen unsereins schon gar nichts versteht.

Insofern schafft Nyoni, die ihrerseits als Achtjährige mit ihren Eltern von Sambia nach Wales gezogen ist, eine ähnliche Rückkoppelung zu ihren familiären Wurzeln wie ihre senegalesisch-französische Kollegin Mati Diop.

Vor allem aber ist On Becoming a Guinea Fowl ein einzigartiges Filmerlebnis, ein emotionales Wechselbad mit konsequenter, schneidender Zuspitzung und einem unvergesslichen Ausrufezeichen.

Ab 13. Februar 2025 in den Deutschschweizer Kinos


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