
Jule hat drei Kinder und viele Probleme. Sie hat kein Geld, kaum Einkommen, eine kleinkriminelle Vergangenheit und dazu den unbändigen Willen, sich nicht unterkriegen zu lassen. Das wäre überall auf der Welt schwierig, zumal sie eben so entschlossen ist, ihren Kindern nichts als Normalität und Familienfrieden zu bieten.
Noch schwieriger aber gestaltet sich das im Rhonetal im unteren Wallis, in der Kleinstadt in dieser Talweite, wo dann doch alles an solide Grenzen stösst, auch die Geduld der sozialen Institutionen.

Die Kinder gehen alle drei in die gleiche Schule, sie lieben ihre Mama, und sie helfen ihr offensichtlich, die innere und die äusseren Fassaden aufrecht zu erhalten. Auch wenn die Älteste, Tochter Claire, mit der Mutter lieber offen über alles reden würde, schliesslich sieht sie mit aller Klarheit, womit Jule jongliert.
Ganz im Gegensatz zum Kinopublikum. Les courageux spielt nicht nach den lange etablierten Regeln der sozial engagierten Filmdramen. Da wird nicht erklärt, warum Jule die drei Kinder zu Beginn des Films in einem Café warten lässt und einfach nicht mehr auftaucht. Bis die drei sich zu Fuss über die vielbefahrene Autobahn in die Wohnung zurückziehen, wo Jule spät in der Nacht wieder auftaucht.

Bei Les courageux gilt der Filmtitel nicht nur für die Protagonisten, sondern auch für die Filmemacherin und ihr Team. Es braucht schon einiges an Mut, um das Kinopublikum konsequent nicht an der Hand zu nehmen. Vieles erschliesst sich im Verlaufe der zunehmend dramatischen Handlung aus beiläufigen Momenten, Bemerkungen, Hinweisen. Wer nicht ganz genau aufpasst, verliert vielleicht auch die Geduld mit Jule, wie der Wohnungsvermittler im Sozialbüro, wie die ehemalige Arbeitskollegin im Supermarkt.
Jasmin Gordon und ihr Co-Autor Julien Bouissoux heben sich mit ihrer fragmentarischen Erzählweise klar ab von den sozialdidaktischen Dramen eines Ken Loach, in denen stets aufgezeigt wird, welche gesellschaftlichen Mechanismen zum Drama führen, und wie Solidarität die Probleme allenfalls zu mildern vermöchte.
Les courageux verzichtet aber auch auf die ausgeklügelte Präzision der Dardennes-Brüder, die ihre Filmhandlungen wie fatalistische Uhrwerke ablaufen lassen.

Stattdessen setzt Jasmin Gordon mit einigem Recht auf die phänomenale Ausstrahlung ihrer Hauptdarstellerin Ophélia Kolb in Kombination mit einer ausgesprochen starken Inszenierung der Kinderdarsteller.
Während die drei Kinder Claire (Jasmine Kalisz Saurer), Loïc (Paul Besnier) und Sami (Arthur Devaux) gleichzeitig realistisch und leicht idealisiert erscheinen, jederzeit nachvollziehbar kindlich, selbst in jenen Momenten, in denen sie offensichtlich die Bemühungen ihrer Mutter durchschauen, behält Kolbs Jule hinter der alles weglächelnden Mama-Fassade eine explosive Unberechenbarkeit, einen Stolz und ein aggressives Freiheitsbedürfnis.

Vielleicht ist es gerade dieser Zug der Frauenfigur, die sich jeder Idealisierung verweigert, welche die eigentliche Irritation dieses Films ausmacht. Hier ist nicht nur ganz eindeutig eine Filmemacherin am Werk, sie unterläuft die meisten gängigen Publikumserwartungen an die Opferbereitschaft einer Mutterfigur. Dabei nimmt Jule unendlich viel auf sich, um ihren Kindern die «richtige» Mutter zu sein, aber ohne die Selbstlosigkeit, bzw. Selbstaufgabe, die ihr 120 Jahre Kino aufgezwungen haben.
Insofern erinnert Les courageux eben weniger an die didaktisch-aufklärerische Sozialdramatradition von Brecht über Loach bis zu den Dardennes, sondern viel eher an die japanische von Mizoguchi und Hirokazu Kore-eda.
Gleichzeitig bleibt Les courageux bisweilen unbefriedigend sperrig, etwa mit raunenden Naturbildern, schon im Auftakt, mit dem dauernden Perspektivenwechsel zwischen den Kindern und der Mutter, und mit dem einen oder anderen Loch in der Handlungslogik, von dem ich nie ganz sicher sein kann, ob es meiner fehlenden Zuschaueraufmerksamkeit geschuldet ist, oder tatsächlich dem Drehbuch.
Das zeigt sich nicht zuletzt in einer gewissen Opposition zwischen Kameraführung und Schnitt, einer vielleicht nicht ganz freiwilligen Aufgabenteilung zwischen Zerreissen und Zusammenfügen, aufrauen und glätten.

Und dann versöhnt einem unerwartet anarchistischer Humor wieder, etwa in der hinreissenden Szene, in der ein Bauer mit Vorschlaghammer den Kindern hilft, einen Radar-Blitzer zu zerstören.
Les courageux versucht, Gewohnheiten zu unterlaufen. Und das gelingt dem Film nachhaltig: Diese ungewöhnliche Mutter geht einem nicht mehr so schnell aus dem Kopf.
Im Kino ab 20. März 2025
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