DIE HINTERLASSENSCHAFT DES BRUNO STEFANINI von Thomas Haemmerli

Bruno Stefanini 1950 © SKKG Winterthur

Winterthur ist die Bronx von Zürich. Der multiethnische Kochkessel, die Zentrale der fleissigen Immigranten, eine Hochburg der früh-, der schwer- und der postindustriellen Zeiten. Ein Nest des Widerstandes gegen und der Überanpassung an die Schweizer Werte zugleich. Wann immer ein Deutschschweizer Dokumentarfilm kultur- und sozialanthropologische Zusammenhänge erforscht, landet er früher oder später auch in Winti.

Im Falle von Thomas Haemmerlis jüngstem Fabrikat (Eigenlabel im Titelvorspann: «fabriziert von…») ist das natürlich früher. Denn Bruno Stefanini, der Protagonist, ist in Winterthur aufgewachsen. Als Sohn eines Italieners und einer Innerschweizerin, welche gemeinsam geschäftstüchtig aus dem Restaurant der Società Cooperativa Winterthur (gegründet von sozialistischen Arbeitern aus Italien im Jahr 1906) eine eigentliche Goldgrube gemacht hatten.

Der 1924 geborene Bruno Stefanini begann als Junge mit dem Sammeln von Steinfelsseifenbildchen und Briefmarken. Als er am 14. Dezember 2018 in Winterthur starb, gehörten ihm rund 280 Liegenschaften, vier Schlösser, das Sulzer-Hochhaus in Winterthur und Tausende von Sammelgegenständen von Hodler- und Anker-Gemälden über Sissis Unterhosen, ausgemusterte Armeepanzer, Napoleonbüsten, Münzen in diversen Luftschutzbunkern, Garagen, Estrichen und Kellern gelagert, als Sammlungsbestände für die von ihm 1980 gegründete Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte (SKKG).

Eines der Skulpturenkellerlager © Xenix

Haemmerli erzählt von den Wurzeln und familiären Hintergründen Stefaninis mit panaschierendem Gusto, mit wilden Collagen aus Sammlungsstücken, Fotografien, Tagebucheinträgen, Postkarten, Notizen und historischem Dokumentationsmaterial, später auch mit Fernsehbeiträgen, Filmmaterial und Archivbeiträgen.

Was einigermassen chronologisch und geordnet beginnt und immer weitere erklärende und ergänzende Kreise zieht, über den Bauboom der 1950er, die nach dem 2. Weltkrieg plötzlich sehr gefragten 1-Zimmer-Wohnungen für die immer selbständiger werdenden Frauen, später die günstigen Wohnungen für unverheiratete Paare in Spreitenbach (weil der Aargau im Gegensatz zu Zürich kein Konkubinatsverbot hatte), ufert in der zweiten Filmhälfte in alle Richtungen aus, springt auf der Timeline wild vor und zurück, analog zum Leben und zur expansiven Sammelwut des Bruno Stefanini.

Haemmerli zeigt betont wenig Interesse an gestalterischer Ruhe in diesem Film. Im Gegenteil. Da werden Kommentare auf der Tonspur oder die von Leonardo Nigro gelesenen Tagebucheinträge Stefaninis wortwörtlich illustriert, mit Peitschen oder Ruten (schliesslich lässt sich in Stefaninis Sammelsurium wohl für jeden Begriff ein abbildender Gegenstand finden) oder auf der Tonspur, die mähen darf, wenn von Schäfchen die Rede ist, oder röhren, wenn der Platzhirsch erscheint.

Stefanini als Bodenseekapitän mit Feldschlösschen © SKKG Winterthur

Den Gegenpol zur klebegekritzelten Punk-Attitüde bilden die fast durchwegs hinreissenden Erzählungen von Zeitgenossinnen und Zeitgenossen Stefaninis. Haemmerli setzt sie alle einheitlich vor einen jeweils individuell monofarbenen Hintergrund.

Christoph Blocher sitzt vor schwefelgelb und erzählt davon, wie er als junger Jurist für seine spätere Frau gegen Stefanini in einem Mietstreit antrat, oder wie er sich später mit ihm ein Anker-Bild teilte, weil sie beide keine Lust hatten, den Auktionspreis im Duell hochzujagen.

Stefaninis Tochter Bettina ordnet mit sichtlicher Zuneigung, aber ohne Verklärung Züge und Ereignisse aus dem Leben des Vaters ein, ebenso seine Ex-Frau, die freimütig lachend erzählt, wie sie lange Zeit nicht merkte, dass Bruno Stefaninis Sekretärin, Dora «Bösi» Bösiger, sie mit ihrer zuverlässigen Präsenz als zentrale Frau im Leben des Mannes verdrängte.

Der Sammler fährt Beute ein © SKKG Winterthur

Auch dass der Film gegen sein Ende und gegen das Ende des Lebens seines Protagonisten hin immer «unordentlicher» wird, passt zu der Figur des alternden Bruno Stefanini und seiner Hinterlassenschaft, deren Aufarbeitung zum Filmeinstieg schon maximal dramatisch ins Bild gerückt wurde:

Da bewegen sich Menschen in astronautenähnlichen Schutzanzügen durch offenbar schimmelsporenverseuchte Kellerräume mit Paletten und Kisten voller absonderlichster Sammlerstücke.

Einer von Stefaninis späten Zeitgenossen redet vom getrieben rastlosen alten Mann als von einem «Profi-Messi», was Dokumentarfilmer Haemmerli zu einem kleinen journalistischen Binnenexkurs veranlasst auf der Suche nach der passenden Definition des Horters und seiner lebenslangen Jäger- und Sammler-Leidenschaft.

Gefährliche Luft im Skulpturenkellerlager © Xenix

Die Hinterlassenschaft des Bruno Stefanini ist nicht nur unterhaltsam und facettenreich «fabriziert», die Mischung aus bisweilen aufdringlicher Wörtlichkeit und sorgfältiger historisch-sozialer Einbettung zeigt auch die widersprüchlichen, fast bipolaren Züge eines Mannes, der die (Deutsch-) Schweiz des 20. Jahrhunderts irgendwie exemplarisch verkörpert hat, mit seiner biografischen Prägung, seiner Leutseligkeit, seiner Lebenslust, seinem fast schizophren knausrigen Geschäftsgebaren, ergänzt durch persönliche Grosszügigkeit und soziale Verantwortungsbereitschaft, etwa im Hinblick auf die Winterthurer Besetzerszene.

Und gerade im Hinblick auf diese zeitgeschichtliche Einordnung und die sorgfältig recherchierten politischen und sozialen Zusammenhänge, wirkt Thomas Haemmerlis wilder, vorgeblich nonchalant hinmontierter, spöttisch-liebevoller Montage-Dok wie ein Bastard-Bruder zu Samirs vergleichsweise überproduziertem, eindrücklich ausufernden Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer, der seit seiner Premiere am letzten Filmfestival von Locarno auf eine noch immer andauernde Kinokarriere zurückblickt.

Die Hinterlassenschaft des Bruno Stefanini hilft tatsächlich, die Schweiz als paradoxe Nation besser zu verstehen. Und zu mögen. Zumindest im Hinblick auf ihre letzten hundert Jahre.

Im Kino ab 20. März 2025


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