
Die Frau, die sich später Renuka nennen wird, nach einer Hindu-Göttin, wischt sich das Blut von der linken Hand, in der Rechten hält sie noch das Messer. Hinter ihr auf dem Bett liegt die nackte Leiche eines sehr fetten Mannes. Mit einem Blick in den Spiegel klappt die Frau das Messer zu.
Das ist die erste Einstellung von The Shameless, und sie ist zwingend. Es mag etwas seltsam klingen, aber dieser Film blinzelt nicht. Er schaut nicht weg. Er schaut auch nicht zweimal hin. Die Kamera des aus Basel stammenden Gabriel Lobos ist sich ihrer Sache absolut sicher und konfrontiert das Publikum mit ihrer klaren Sachlichkeit.

Dabei möchte man sich eigentlich gar nicht so ungeschützt einlassen auf das, was Konstantin Bojanov mit diesem Film erzählt. Die Geschichten von Nadira und Devika spiegeln sich, kreuzen sich, laufen eine Weile gemeinsam, gehen auf (und unter) in der überraschenden, unmöglichen Liebe der beiden Frauen, welche im indischen Kasten-System als Devadasi in die sogenannte kastenbasierte Prostitution geboren wurden.
Nachdem die 27jährige Nadira im Bordell in Delhi den gewalttätigen Polizeichef umgebracht hat, bleibt ihr nur noch die Flucht in den Norden. In der Kleinstadt Chatrapur mietet sie ein Bordellzimmer wie viele andere Frauen auch. Die Vermieterin verlangt einen exorbitanten Preis dafür, den Nadira, die sich Renuka nennt, akzeptiert, mit dem Hinweis, sie werde ohnehin nicht lange bleiben.
«Das sagen sie alle. Und in zehn Jahren bist du immer noch hier und vögelst.»

Im Haus nebenan lebt Devika, mit ihrem jüngeren Bruder, der älteren Schwester, ihrer Mutter und der Grossmutter, welche in der Devadasi-Tradition noch ihren Status als Tempel-Priesterin wahrt, aber sich im Klaren ist darüber, dass ihr und ihrer Tochter nichts anderes übrig bleibt, als der übliche Verkauf der Enkelinnen in die Prostitution. Die ältere der beiden wird nach Delhi ins Bordell geschickt, die Entjungferung der Jüngeren, Devika, soll bald das Familieneinkommen erhöhen.
Aber dann trifft Devika, die heimlich von einer Rap-Karriere träumt, auf Renuka, die bedrohte, kindliche Unschuld auf die Frau, die schon alles erlebt und erlitten hat und sich zu wehren weiss.

Bojanov erzählt dramaturgisch im Thriller-Stil, wechselt zwischen Renukas und Devikas Perspektiven, und deckt Zusammenhänge und Ursachen schrittweise und oft sehr spät auf. Gleichzeitig zeichnet er sorgfältig das Milieu, die politischen und sozialen Zwänge, die indische Realität mit korrupten Politikern, der zunehmend muslimfeindlichen Hindubewegung, der wirtschaftlichen Zementierung der uralten demographischen Verwerfungen durch das Kasten-System.
Das liegt auch daran, dass Bojanov für diesen Spielfilm von einem mehrteiligen Dokumentarfilmprojekt ausgegangen ist, von realen Geschichten, einer echten Renuka und ihrer Liebe zu einer anderen Frau.

Die Fiktionalisierung erlaubt es Bojanov einen erstaunlichen Reichtum an soziologischen, mythologischen und politischen Schnittstellen zu diesem packenden, erschütternden, dokumentarisch-realistischen Thriller zusammenzufügen.
So erfährt die jüngere Devika erst relativ spät, dass ihre geliebte Renuka eigentlich Nadira heisst und fragt entsetzt, ob sie denn Muslima sei?
Allein in diesem Spiel mit den Namen steckt ein ganzes Referenzsystem. Nadira war ein Star des indischen Kinos der 1950er und 1960er Jahre, mit Wurzeln in der irakisch-jüdischen Gemeinde Indiens – was schliesslich dazu geführt hat, dass ihre gesamte Familie Indien verlassen hat. Renuka dagegen, deren Namen sich Nadira selbst gegeben hat, ist eine Halbgöttin, die von ihrem Gatten der Unkeuschheit bezichtigt und zum Tod verurteilt wird, worauf ihr Sohn, der das Urteil vollstreckt, sich ihre Wiedergeburt in absoluter Reinheit wünscht.
Es ist die hochkomplexe Synthetisierung der Zwänge und Dramen aus realen sozialen Gegebenheiten heraus, welche The Shameless so zwingend und erschütternd machen. Und gleichzeitig spiegelt sich nicht nur das Schicksal der beiden Hauptfiguren über eine versetzte Zeitachse, sondern auch die künstlerische Verdichtung im dokumentarischen Erzählstil, die grossartig schönen Kamerabilder in der meist mehr als schäbigen Realität.

Das alles führt zur erzählerischen Sicherheit, zum Sog dieses Films, zum Eindruck, dass die Kamera nie blinzelt und nie zweimal hinschaut.
Was paradoxerweise auch den stärksten Kunstgriff von Regisseur Bojanov ermöglicht: Die grauenvollsten Momente von Gewalt und Übergriffigkeit sind nie zu sehen. Die passieren vor oder nach den einschlägigen Einstellungen. Dazwischen gibt es Schwarzblenden, oder poetisch albtraumhafte Momente, etwa wenn Devika zusieht, wie sich auf einem weissen Laken dunkle Blutflecken ausbreiten.
The Shameless ist ein nachhallendes Kinoerlebnis, einer jener raren Filme, die sich ihrer Sache in aller Bescheidenheit absolut sicher sind, und damit unangreifbar.
Im Kino ab dem 10. April 2025
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