BLAME von Christian Frei

‚Blame‘ © Christian Frei Filmproduktion GmbH

Der Eröffnungsfilm des diesjährigen Dokumentarfilmfestivals in Nyon ist definitiv einer von Christian Frei, definitiv gross, laut und (bisweilen) bildstark. Und Blame ist auch nicht einfach ein Film, das ist eine Dokumentaroper.

Das liegt am dramatisch-illustrativen Score von Marcel Vaid, der mit wagnerianischem Pathos die von Frei in immer weiteren Spiralen zusammengetragenen Fakten und Reaktionen und Post-Fakten und Propagandamaterialien und Verschwörungstheorien zur emotionalen Achterbahn hoch- und runterpuscht.

Leider illustriert Frei damit auch seine eigene These, dass Emotionalisierung, Vereinfachung und Manipulation beim Publikum besser verfangen als komplexe Sachlagen und Widersprüche.

Christian Frei versucht mit seinem durchaus zielsicher getitelten Dokumentarfilm herauszuarbeiten, warum während und nach der Covid-Pandemie die Suche nach dem Ursprung und den Möglichkeiten zur Verhinderung der nächsten Pandemie untergegangen ist in einem Hexenkessel von Anschuldigungen, Sündenbocksuchen und politischer Manipulation.

Dafür braucht er eine einigermassen klare Ausgangslage, und die findet er, in dem er der Arbeit eines Freundestrios von Wissenschaftlern nachgeht, Linfa Wang aus Singapur, der Chinesin Zhengli Shi vom Wuhan Institut für Virologie, und dem Briten Peter Daszak, dessen NGO EcoHealth Alliance in den USA nun eben im Zuge des allgemeinen, gezielten Defundings von Forschung und Wissenschaft unter die Räder der Trump-Politik gekommen ist.

Frei bringt seinem Publikum die drei Protagonisten näher, er blendet zurück in die Anfänge ihrer gemeinsamen Forschung, der Suche nach SARS-Erregern in Fledermäusen und ihrem ersten grossen Durchbruch, einem wissenschaftlichen Artikel, der schon 2005 klar vor den Gefahren einer Pandemie durch Überspringen von Erregern von Wildtieren auf den Menschen warnte.

Dass Frei sich in jahrelanger Arbeit kundig gemacht hat, dass er sich bemüht um objektive und kritische Distanz, das demonstriert er immer wieder, indem er sich selbst mit sorgenvollem Gesichtsausdruck beim Lesen von Publikationen zeigt, beim Kauf eines besonders reisserischen Spiegel-Titels an einem Kiosk in Zürich, oder im Transit vom einen Flughafen zum nächsten, immer im Bemühen, sein Wissenschaftstrio an einen Tisch zu bekommen. Was nie gelingt, weil Zhengli Shi von der chinesischen Regierung die Reisegenehmigung nicht bekommt.

So sehen wir eben Christian Frei mit den anderen beiden an einem Tisch in einer gemeinsamen Videositzung mit der chinesischen Kollegin, und immer wieder auch Filmmaterial und Bilder aus den langen Forschungsjahren vor Pandemie und Lockdown. Überhaupt ist vieles von dem, was Frei an Filmmaterial zur Verfügung stand, denkbar (und wohltuend) unspektakulär. Darum schneidet er immer wieder zu suggestiven Drohnenflügen, welche den Fledermausflug simulieren, und zu tatsächlich eindrücklichen Aufnahmen rund um all die Batcaves, in denen sich barfüssige Guano-Sammler mit fledermausjagenden Wissenschaftlern im kompletten Biohazard-Schutzanzug das Bild teilen.

Dass Christian Frei sich entschieden hat, seinen ganzen Film und seine Arbeit mit einem eigenen reflexionsgetränkten Voice-Over zu begleiten, führt allerdings dazu, dass sein demonstratives Bemühen um Offenheit und Objektivität sich bisweilen zusammen mit der wuchtig manipulativen Stimmungsmusik zu einem Hochamt der veräusserten Innerlichkeit hochschwingt und zusammen mit den immer wieder spektakulär ins Bild gerückten Fledermausschwärmen einer wütenden Windhose zu gleichen beginnt.

Dazu trägt auch bei, dass die sich weitenden Spiralbewegungen der Begegnungen und Rekapitulation zum Ende des Films, nach einem nicht sehr ergiebigen Rückzug in ein Innerlichkeitsberg-Spa und zu naturheilenden Geisterabweisern, zu einer argumentativen Endlosschleife gerinnen.

Man könnte allerdings auch mit der zentralen These des Films für Christian Freis Vorgehen argumentieren: Wenn komplexe Zusammenhänge das Publikum so weit überfordern, dass es seine Rettung in einfachen Kurzschlüssen sucht, dann hilft es vielleicht, die richtigen emotionalen Kurzschlüsse zu provozieren.

Blame macht tatsächlich beides. Der Film liefert schlüssige Fakten und er emotionalisiert. Und Frei positioniert sich klar und deutlich als Stimme der Vernunft gegen die Dämonen der Demagogie. Dass er dabei beide auf der Leinwand etwas grösser macht, ist ein erprobter filmischer Kunstgriff.

Die Visions du réel in Nyon präsentierten den Film gestern als Weltpremiere. Der Kinostart ist noch offen.


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