SHIFTING BASELINES von Julien Elie

© cinéma belmopan / GreenGround Productions

Dieser kanadische Dokumentarfilm mit seinen grossartigen Schwarzweissbildern kommt daher wie eine melancholische Komödie. Die Protagonisten sind allesamt enthusiastisch, selbst jene, die sich vorwiegend Sorgen machen.

«They call us Texas-Tank-Watchers», sagt eine der älteren Frauen lachend. Und der Rentner, der sich mit Zelt, Laptop, Solarpanel und Motorrad am Strand von Boca Chica in Texas eingerichtet hat, erklärt, er verstehe nicht, warum nicht viel mehr Leute herkämen, um hier beim Aufbruch in die Zukunft dabei zu sein.

Die hinter ihm surreal in den texanischen Himmel ragenden Raketen von SpaceX benennt er begeistert als «die Nina, Pinta und Santa Maria unserer Zeit». Wie einst Kolumbus würden wir demnächst eine neue Welt entdecken. Und erobern. Davon sind sie alle überzeugt, diese Enthusiasten im texanischen Grenzland.

© cinéma belmopan / GreenGround Productions

Sie alle kommen in ihren Teslas, oder mit Bussen, auf geführten Touren, um den nächsten Start einer Rakete mitzuerleben. Und alle sind sie geistige Kinder des Mond-Enthusiasmus des Apollo-Programms der 1960er Jahre. Enterprise-Träumer der Star-Trek-Generation, mit Frieden im Herzen und Eroberung im Kopf.

Für die Fischer, mit denen der Kanadier Julien Elie seinen Dokumentarfilm beginnt, lange bevor der erste Mars-Phallus ins Bild gerät, sieht das alles etwas anders aus. Elie filmt die wettergegerbten alten Männer in ihrem kleinen Boot auf der mexikanischen Seite des Golfes.

Diese ersten Bilder von Shifting Baselines evozieren in ihrem sonnengefluteten Schwarzweiss nicht von ungefähr Erinnerungen an Hemingways Klassiker The Old Man and the Sea.

Spencer Tracy in ‚The Old Man and the Sea‘ (John Sturges, 1958) © Warner Bros.

Bloss ringen die Männer im Boot nicht mit riesigen Fischen. Sie ziehen Winzlinge aus dem Wasser, die sie zum grössten Teil gleich wieder freisetzen. Und einer von ihnen wird später im Film den Filmtitel erklären: Shifting Baselines, die kollektive Wahrnehmungsverschiebung:

Umweltveränderungen passieren in der Regel so langsam, dass sie nicht wahrgenommen werden. Die Nachfolgegeneration der Fischer hat keine Ahnung davon, wie gross die Fische hier einst waren, wie zahlreich auch.

Die jungen Leute, welche das Naturschutzgebiet betreuen, das unmittelbar an die SpaceX-Starbase von Boca Chica angrenzt, haben das Problem nicht. In ihrer Wahrnehmung ist es ziemlich offensichtlich, dass die zum Teil sehr raren Vögel im Strandgebiet nicht mehr lange nisten werden, wenn jeder missglückte Raketenstart ihre Nistflächen verbrennt und zu Trümmerfeldern macht.

© cinéma belmopan / GreenGround Productions

Und auch die kanadische Astronomin im verschneiten Balgonie in Saskatchewan macht sich Sorgen über das Tempo, mit dem ihr geliebter Nachthimmel sich verändert hat.

Innert sechs Jahren, seit dem Start von Musks Starlink-Programm, hat die Firma über 7000 Satelliten im Erd-Orbit abgesetzt. Zusammen mit jenen aller anderen Organisationen und Firmen ist unser Planet nun von mindestens 65’000 künstlichen Satelliten umgeben. Früher habe sie sich Sorgen gemacht um die Lichtverschmutzung, die Veränderung des Himmelbildes. Unterdessen sehe man mehr Satelliten als Sterne und die hätten eine aktive Spanne von fünf Jahren, danach sind sie Orbitalschrott und würden mit noch mehr Satelliten ersetzt.

Julien Elie und sein Team bilden mit den atemberaubend schönen schwarzweissen Bildern den Kontrast zwischen den begeisterten Space-Gläubigen und den zwischen Enthusiasmus und Hoffnungslosigkeit pendelnden kritischen Geistern ganz grossartig ab.

So wie Schwarzweiss an einem in der Sonne gleissenden Strand surreal wirkt, unwirklich, geisterhaft, solarisierend, so wirkt der Kontrast zwischen den Aufbruchsjüngern und den Realisten wie das Leuchten einer weiteren Dimension des Daseins.

Shifting Baselines ist ein starkes Erlebnis, eine ästhetische Überhöhung, die einen ganz nebenbei mit einer erstaunlichen Fülle von Fakten und Zusammenhängen in Verbindung bringt. Am Ende schwankt man zwischen ungläubiger Verzweiflung mit den einen und dem leisen Neid auf die Begeisterungsfähigkeit der anderen.

Ein wahrhaftiger und nachhaltiger Space-Trip auf Erden.

Noch einmal zu sehen an den Visions du réel am Montag, 7. April 2025


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