
Wie das wohl aussieht, wenn eine Medienanthropologin sich der eigenen Familiengeschichte zuwendet? Dieser Dokumentarfilm ist die denkbar erfreulichste Antwort auf die Frage. Laura Coppens befragt ihren DDR-Grossvater liebevoll, vorsichtig, reflektiert und sehr zielgerichtet.
Der Film basiert auf akribischen Nachforschungen, greift zurück auf Briefe, Familienfotos, historische Unterlagen und Archivmaterial. Laura Coppens hat mit wissenschaftlicher Sorgfalt Materialien zusammengetragen, analysiert und verglichen.
Zugleich aber bleibt sie die Enkelin, die zusammen mit dem geliebten Opa Schicht für Schicht die Sedimente in der Familiengeschichte überprüft, mit seinen Erinnerungen abgleicht und sich dabei selbst dauernd daran erinnert, dass auch die eigene Erinnerungskultur von der Familiengeschichte geprägt ist.
Es dauert im Film gut eine Stunde, bevor die Enkelin den Opa fast beiläufig nach seiner Stasi-Tätigkeit fragt, danach, wie er, der staatstreue Arzt und Gynäkologe, zum heimlichen Gutachter und Spezialisten im Dienst des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) geworden war.
Zu dem Zeitpunkt hat das Kinopublikum Günther Gerber und seine Familiengeschichte schon so gut kennengelernt, dass die Filmemacherin mit der wohlwollenden Aufmerksamkeit rechnen kann, die sie ihrem Grossvater entgegenbringt.
Wir haben erfahren, wie der kleine Günther seinen grossen Bruder Johannes verehrt hatte, damals in Obercrinitz im Erzgebirge. Wie er ihn bewundert hatte, als er ihn in der Uniform der Hitlerjugend gesehen hat. Wie der Bruder schliesslich wie Millionen anderer junger Deutscher im Krieg verheizt wurde, wie sich der zuvor stramm Hitlertreue Urgrossvater daraufhin hinterfragt und erhängt hat.
Wir haben Briefe vorgelesen bekommen, in denen der Rentner Gerber etwa einen Jugendfreund daran erinnert, dass ihnen beiden die «Gnade der späten Geburt» zuteil geworden war, und wir sind gerne bereit, dem alten Mann zu glauben, wenn er sich zu erinnern glaubt, in aller Naivität seine Bürgerpflicht wahrgenommen zu haben.
Studienzeit und Karriere in der DDR, die Heirat mit der lebensfrohen Studienkollegin, deren marxistisch-stalinistische Überzeugung und deren Trauma der Flucht aus Polen bei Kriegsende, bei dem wohl zumindest ihre Mutter vergewaltigt worden war, vielleicht auch sie: Dr. Renate Gerber hat nie darüber gesprochen, konnte nicht darüber sprechen, wie sich ihr Mann Jahre nach ihrem Tod mit Bedauern erinnert.
Dabei ist sie es, die als erste zu hören ist, im Film von Laura Coppens. In einem Brief erklärt sie der Enkelin, dass sie und der Grossvater sich derzeit nicht vorstellen könnten, sich an ihrem Filmprojekt zu beteiligen. Zu starr seien die Vorurteile gegenüber der einstigen DDR nach der Wende geworden, das «Schwingen der Stasikeule, das Rentenunrecht».
So hat Laura Coppens dann erst nach dem Tod der Grossmutter den Grossvater zum Erzählen gebracht, vorsichtig, liebevoll und sehr zurückhaltend. In einer frühen Einstellung fährt er mit einem unendlich langsamen Treppenlift in Echtzeit vom oberen Stockwerk zu ihr und der Kamera herunter, steigt vom Sessel und erklärt verschmitzt, eigentlich brauche er den Treppenlift ja noch gar nicht. Aber der müsse im Schuss gehalten werden, man wisse ja nie.
Das nicht über die Dinge reden können, das Verschweigen, das ist ein Grundthema dieses Films. Der Opa erklärt, er sei mit seinen 85 Jahren ja noch relativ fit, dabei hätte er doch mittlerweile das Recht auf Demenz. Aber am schlimmsten seien seine Wortfindungsstörungen, gegen die würden auch die Sudokus nicht helfen.

Die Enkelin kennt das Schweigen als Familienzug, auch von sich selbst. Unter anderem darum bezieht sie sich immer wieder auf Christa Wolfs «Kindheitsmuster» und tippt auf der Schreibmaschine vor der Kamera eine Art kommentierende Zwischentitel. Zum Beispiel diesen abgewandelten Wittgenstein-Satz:
«Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man allmählich zu schweigen aufhören»
Das Zitat stammt von Sabine Wilke. Sie verwendete es in ihrem Artikel «Vergangenheitsbeziehungen in Christa Wolfs Kindheitsmuster», der 1991 in der Zeitschrift Germanic Review erschien.
Ein anderer der getippten Sätze stammt direkt aus «Kindheitsmuster»:
«Brauchen wir Schutz vor den Abgründen der Erinnerung?»
Sedimente ist eine eindrückliche, eindringliche Arbeit, das Gegenteil jener von der Grossmutter befürchteten Stasi-Keule. Laura Coppens trägt die Geschichte ihrer Familie über die Generationen und Diktaturen hinweg zusammen und anerkennt, dass diese Sedimente, diese Schichten sich zwar freilegen, aber nicht wegputzen lassen, schon gar nicht durch Schweigen.

Und dann gibt es noch diesen Trost im Vergessen und Wiederfinden: Als sie dem Grossvater seine Email von 2013 zu lesen gibt, in der er der Enkelin die Umstände und Hintergründe seiner heimlichen Stasi-Verflechtungen erläutert, kann er sich nicht mehr daran erinnern, das geschrieben zu haben. Die geschilderten Fakten seien allerdings korrekt.
Man kann bei Bedarf also auch das vergessene Erinnerte vergessen. Und doch (gemeinsam) das Schweigen brechen.
Aber dann braucht es die Sorgfalt der Medienanthropologin, um wiederum die Fallen des Nichtschweigens aufzuzeigen. Etwa mit dem Ausschnitt aus der Stasi-Mitarbeiter-Akte von Günther Gerber, in dem sein zuständiger Betreuer notiert hat, dass das Wort «Spitzel» durchaus negativ konnotiert sei, und ausschliesslich für die Agenten der Gegenseite zutreffe. Während die eigenen Agenten sich doch eher als «Kundschafter» verstehen sollten.
Der Film hatte seine Premiere an den Visions du réel,
Ob und wann er ins Kino kommt, ist noch offen.
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