
Das Bild zeigt einen schwarzen Polizisten, der einen schwarzen Jungen massregelt. Die Frauen im Hintergrund schauen besorgt zu, der weisse Schnauzträger rechts im Bild, Hände in den Hosentaschen, wirkt unberührt. Die Fotografie hat Ernest Cole in seiner Heimat Südafrika gemacht, sie ist Teil seiner über zehn Jahre hinweg entstandenen Apartheid-Dokumentation «House of Bondage».
Der Fotoband machte den 27jährigen Cole 1967 fast über Nacht berühmt. Und zum Exilanten.
Raoul Peck lässt Ernest Cole seine eigene Geschichte erzählen, seine eigenen Fotos kommentieren. Zu hören ist die Stimme von LaKeith Stanfield, denn Cole ist 1990 in New York im Exil gestorben, verarmt, zerrissen von Heimweh und fast vergessen.

Raoul Peck hat die Voice-over Erzählung geschrieben, zusammengetragen aus Tagebucheinträgen, Briefen, Dokumenten, Zeitzeugenberichten. Der Film nennt im Vorspann denn auch ausdrücklich Peck und Cole als Co-Autoren. Das Substrat des Films sind allerdings die Fotos von Cole. Sie bilden das Rückenmark, die Nervenstränge, die Schreie und das Flüstern dieses Films.

Eigentlich wollte Peck vor allem die 2017 zufällig in einem schwedischen Banksafe entdeckten 60’000 Negative und die Dokumente von Cole aufbereiten und sortieren. Aber das Material verlangte nach mehr und der Film, der schliesslich entstanden ist, ist einmalig und exemplarisch zugleich.
Der grösste Teil der visuellen Eindrücke der 105 Minuten kommt tatsächlich von den Fotos von Ernest Levi Cole. Die wenigen Bilder, auf denen er selbst zu sehen ist und jene, die nicht von ihm gemacht wurden, werden im Bild ihren jeweiligen Urhebern zugewiesen. Und Peck ergänzt mit zeitgenössischem Filmmaterial, aus Archivbeständen und diversen Quellen.

Ernest Cole: Lost and Found ist nicht einfach ein Dokumentarfilm, der Titel Programm und Beschwörung zugleich.
Der Film vermittelt Einblicke in den Horror der Apartheid mit der Direktheit des Betroffenen. Das wird noch verstärkt, als der völlig überforderte Cole in New York als Starfotograf empfangen wird und sogleich zum Chronisten der US-Segregation gemacht werden soll. Man schickt ihn in den Süden der USA und wundert sich, dass seinen Bildern vom Alltagsrassismus dort die «Edge» fehlt, die Schärfe.

Dabei musste der junge Mann in den USA nicht nur den Schock der Entwurzelung von der Heimat verdauen, sondern vor allem mit der Erkenntnis klarkommen, dass er nicht im «Land of the Free» angekommen ist. In Südafrika habe er sich beim klandestinen Fotografieren in den 1950er und 60er Jahren davor gefürchtet, verhaftet zu werden. In den US-Südstaaten fürchtet er sich davor, erschossen zu werden.
Raoul Peck, Ehrengast am diesjährigen Visions du réel in Nyon, ist dank seiner Arbeit und seiner weltumspannenden Vernetzung das ideale Epizentrum, um Ernest Cole und sein Schicksal in einem vibrierenden Flechtwerk aus Bildern, Worten, Musik und Kunst lebendig zu machen.

So wie zu Coles Abdankungsfeier in New York unzählige (Exil-) Künstlerinnen und Künstler gekommen waren, bringt Peck durch seine Haltung, seinen Status und seine Unermüdlichkeit auch mit diesem Film überraschend viele Stimmen zusammen.
Das, was Kirill Serebrennikov mit seinem Limonov: The Ballad in New York ansatzweise versucht und weitgehend verpasst hat, gelingt Raoul Peck mit Eleganz, Ernsthaftigkeit und vor allem Vielstimmigkeit: Ein Zeitbild der Verwerfungen und Umwälzungen, die in unsere Gegenwart hineinreichen. Ein Film, der Dinge ins Licht rückt, klarstellt, erinnert und ermahnt.
Der Film kommt am 8. Mai 2025 via trigon-film ins Kino
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