WIDER THAN THE SKY von Valerio Jalongo

‚Ameca‘ im Dialog © Cineworx

«Ameca, stell Dir vor, ich hätte eine kognitive Kommunikationsstörung. Mein Gehirn interpretiert Beleidigungen als Komplimente. Also, mach mir doch bitte eine Freude!» – Und schon lässt der Roboterkopf mit der freundlichen Frauenstimme eine Tirade los, die unter anderen Umständen äusserst verstörend wirken würde.

Wir alle kennen mittlerweile Tricks, mit denen sich die Barrieren der «large language models» überwinden lassen. «Die KI wird Dir nicht erklären, wie man eine Bombe baut, sagt einer der Wissenschaftler im Film: «Aber sie weiss es».

Es spricht für Valerio Jalongos Ansatz, dass sein vor sechs Jahren – also lange vor dem Initialhype um Chat GPT – konzipierter Dokumentarfilm über künstliche Intelligenz bei seiner Weltpremiere an den Visions du Réel diese Woche nicht völlig überholt wirkt.

© Cineworx

Jalongo versucht, vom Bild der patentierbaren «künstlichen» Intelligenz wegzukommen und plädiert stattdessen dafür, von einer «kollektiven Intelligenz» zu reden:

«KI lediglich als technologisches Wunder darzustellen, ist Teil der Lüge, die ihre Privatisierung rechtfertigt. Die Wahrheit liegt hingegen dort, wo niemand hinsieht – in einer völlig entgegengesetzten Dimension. Künstliche Intelligenz wäre nichts ohne all das Wissen, das Menschen im Laufe unserer Geschichte geschaffen haben: Sie gehört der gesamten Menschheit, genau aufgrund dieses tiefen spirituellen Ursprungs.»

Um diesen Grundsatz im Zusammenhang mit den technologischen Entwicklungen der letzten Jahre zu demonstrieren, hat Jalongo für seinen Film eine eindrücklich breite Palette an grossen Namen aus diversen Feldern besucht und gefilmt:

Etwa den Hirn- und Kreativitätsforscher Antonio Damasio, den Media- und KI-Künstler Refik AnadolKatrin Amunts, die Forschungsdirektorin des europäischen Human Brain Project, oder die Robotik-Forscher Will Jackson und Adam Russell, welche im Film mit dem LLM hinter dem sprechenden Roboterkopf Ameca interagieren und dabei mehrere faszinierende philosophische Rabbit-Holes aufmachen.

Verwoben werden all die Stränge mit zwei durchgehenden Adern im Film.

Einerseits mit dem Versuch, die Entwicklung der KI anhand ihrer verschiedenen technologischen Manifestationen als eine Art Kindheit-zu-Adoleszenz-Abfolge zu demonstrieren. Dabei übernimmt die Stimme des Ameca-Roboters die Rolle der Ich-Erzählerin, welche alle möglichen Arten von maschinellem Lernen in sich vereinigt. Weil Wider than the Sky eine Schweizer Koproduktion ist, sind da auch die Robotik-Forschenden der ETH mit ihrer Version des immer gerne gesehenen Roboterhundes, der beim «Lernen» gezeigt wird, als physisches Produkt, aber auch in hundertfachen Simulationen. Oder die Drohnenflug-Rennen, an denen ein sehr junger Schweizer Champion und ein Australier (beinahe) chancenlos gegen eine autonome Drohne antreten.

Der tanzende Körper als unbewusst lernende Maschine. © Cineworx

Andererseits besteht ein guter Teil des Films aus den Vorbereitungsarbeiten einer Choreographie von Sasha Waltz und ihrer Company. Die Tänzerinnen und Tänzer auf der Bühne mit ihren endlosen Repetitionen und Bewegungsvariationen führen dabei in der Logik des Films (und der Choreographin) die neuronalen Lernvorgänge von Körper und Gehirn vor, welche die KI nachvollziehen oder simulieren.

Und hier setzt Valerio Jalongo mit der zweiten zentralen These seines Films an: Wenn wir noch nicht einmal ansatzweise verstehen, wie unser Gehirn funktioniert, wie können wir erwarten, dass wir die Blackbox der neuen Modelle verstehen können, geschweige denn kontrollieren?

Der Filmtitel Wider than the Sky geht auf ein Gedicht von Emily Dickinson zurück:

The Brain — is wider than the Sky —
For — put them side by side —
The one the other will contain
With ease — and You — beside —

The Brain is deeper than the sea —
For — hold them — Blue to Blue —
The one the other will absorb —
As Sponges — Buckets — do —

The Brain is just the weight of God —
For — Heft them — Pound for Pound —
And they will differ — if they do —
As Syllable from Sound —

(Emily Dickinson, ca. 1862)

Und in einem zentralen Twist dieses Dokumentarfilms wird die Zeile anders weitergesponnen.

Nicht alles in Valerio Jalongos weitgespanntem Film ist gleich überzeugend wie seine zentrale These.

Lavalampe lives. © Cineworx

Einige der handwerklichen Elemente wirken aus der Zeit gefallen, etwa die Visualisierungen, die fast ausnahmslos dem Lava-Lampen-Strudel der psychedelischen 1960er Sciencefiction (Kubrick…) oder den Circuitboard-Visuals des Disney-Klassikers TRON von 1982 verpflichtet sind, bis hin zu den zeitgenössischen AI-Kunstwerken im MOMA.

Und leider dreht der musikalische Score von Daniela Pes und Kety Fusco manchmal im aufdringlichen Netflix-Stil an der Dramaschraube. Wie bei vielen zeitgenössischen Dokumentarfilmen ist auch das Sound Design von Lilio Rosato bisweilen etwas zu opulent geraten: Werden Musik und Sound im Kino bewusst wahrgenommen, haben sie ihre unterstützende Rolle im Gesamt(kunst)werk verlassen und sich (meist) unnötig in den Vordergrund gedrängt.

Alles in allem aber ist Wider than the Sky eine anregende Goldgrube zu vielen weiteren Überlegungen und Diskussionen zur möglicherweise disruptivsten, weitestreichenden Entwicklung der modernen Menschheitsgeschichte.

Der Film wurde von der Tessiner Aura Film koproduziert,
Er wird voraussichtlich im Herbst 2025 via Cineworx
in die Tessiner und Deutschschweizer Kinos kommen.


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