
Nachdem sie in der Schule von ihrer Freundin geohrfeigt wurde, hört und sieht Marielle plötzlich ihre Eltern im Kopf, als ob sie dabei wäre. Sie erlebt, wie ihre Mutter bei der Arbeit mit einem Kollegen die Möglichkeit von Bürosex kontempliert, und sie sieht die Demütigung ihres Vaters bei einer Team-Sitzung im Buchverlag.
Darum platzt es dann aus ihr heraus beim Abendessen mit den Eltern, als der Papa stolz erzählt, wie souverän er seinen jungen Kollegen in den Senkel gestellt hatte: «Aber das stimmt doch gar nicht, Papa!»
«Ich sehe und höre einfach alles, was ihr macht», erklärt sie den verblüfften Eltern.
Das Prinzip der plötzlich offengelegten Geheimnisse und Peinlichkeiten treibt im Kino in der Regel eher die Komödienschiene.
Mel Gibson, der in Nancy Meyers What Women Want (2000) plötzlich die Gedanken aller Frauen in seinem Betrieb hören konnte, oder «Dummschwätzer» Jim Carrey, der in Liar Liar (1997) seine Anwaltskarriere gefährdet, weil er plötzlich nicht mehr lügen kann, und dauernd mit der Wahrheit herausplatzt.
Frédéric Hambalek dreht mit seinem cleveren, zunächst täuschend unterkühlten Film den Spiess um und erzählt das Drama des wissenden Kindes.

Die Idee dazu sei ihm gekommen, als er zum ersten Mal ein Babyphone gesehen habe. Diese Möglichkeit für Eltern, ihr Kind ohne sein Wissen zu überwachen, habe ihm ein ungutes Gefühl beschert.
Julia Jentsch und Felix Kramer spielen Marielles Eltern mit viel Gespür für die Abgründe.

Zunächst vermuten Julia und Tobias, ihre Tochter überwache sie über ihre Mobiltelefone. Aber schon das ist nicht einfach zu verhandeln zwischen ihnen, weil sie ja gleichzeitig die von Marielle angesprochenen Momente bestreiten.
Julias Frust in der Ehe und Tobias’ bröselnder Status im Geschäft sind längst nicht mehr geteilte Themen. Die Tochter leidet – wie alle Kinder – unter den nicht angesprochenen Spannungen zwischen den Eltern.
Harbalek gelingt es, diese Spannung realistisch zu inszenieren und gleichzeitig die Möglichkeiten der fantastischen Prämisse seiner Geschichte in cleveren Variationen durchzuspielen.
So entsteht eine sich permanent verschiebende Machtdynamik. Zuerst teilen Marielle und ihre Mutter unausgesprochen das Wissen, dass Marielles Beobachtungen der Realität entsprechen. Sie sind Vater Tobias gemeinsam mit dem Kinopublikum eine Erkenntnisstufe voraus.

Dann verbündet sich die Tochter mit dem Vater, wird manipulativ und will die Mutter dadurch zwingen, die Wahrheit zu sagen. Und schliesslich dreht diese den Spiess um, realisiert ihre Arbeitsplatzaffäre und provoziert ihren Mann, womit die Tochter sich mitten in einem Rosenkrieg wiederfindet.
Die vorwiegend kaltblaue Farbpalette, vor allem im Haus der Familie, die gnadenlos erniedrigenden Momente am jeweiligen Arbeitsort der Eltern und die verlogene Dynamik der beiden sorgen dafür, dass Was Marielle weiss sich gezielt vom komischen Potential seiner Prämisse entfernt und an seinem emotionalen Tiefpunkt eher an sezierende Niedertrachtsdramen wie Yasmina Rezas Der Gott des Gemetzels, etwa in Carnage, der Verfilmung durch Roman Polanski, erinnert.
Aber Frédéric Hambalek gesteht seinen Figuren von Anfang an mehr Menschlichkeit zu, lässt mit Marielles Grossmutter eine verständnis- und liebevolle Figur zum möglichen Ausgleich auftreten.

Und schliesslich kombiniert er auch noch die komischen Möglichkeiten der Plotmechanik mit dem dramatischen Impetus der Geschichte vom Kreidekreis in einer Szene, mit der übrigens der Kinowerbetrailer gezielt aufgeheitert wird:
Marielle und die Eltern spekulieren, dass eine Wiederholung der auslösenden Ohrfeige den Fluch brechen könnte. Worauf die Eltern darüber zu streiten beginnen, wer denn nun die Tochter ohrfeigen solle. Julia meint, das sei doch traditionsgemäss eher Sache des Mannes, Tobias bringt es aber kaum übers Herz.
Es ist bezeichnend für die Sorgfalt und die Besonnenheit dieses Films, dass nicht diese Szene zu Abschluss und Auflösung führt. Hambalek zieht die Dynamik weiter und findet ein erfreuliches Ende, ohne die Abgründe seines Films einfach zuzuschütten.
Was Marielle weiss ist überraschend und klingt lange nach.
Im Kino ab dem 17. April 2025
Entdecke mehr von Sennhausers Filmblog
Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.