
Der neue Film von Alain Guiraudie (L’inconnu du lac, 2013) gehörte zu den schönsten Überraschungen am letzten Filmfestival von Cannes. Ohne grossen inszenatorischen Aufwand reiht er Twist an Twist, Frage an Frage, bloss, um dann jeweils die unerwartetste und zugleich erfreulichste Antwort zu geben.

Jérémie Pastor (Félix Kysyl) kommt in sein in den okzitanischen Bergwäldern verstecktes Heimatstädtchen Saint-Martial zurück zur Beerdigung seines einstigen Lehrmeisters, dem Bäcker Jean-Pierre. Während sich Martine (Catherine Frot), die Witwe, sichtlich freut und Jérémie auch gleich ein Zimmer herrichtet, reagiert der Sohn Vincent (Jean-Baptiste Durand) eher etwas angepisst auf die Präsenz des einstigen Jugendfreundes.
Und als sich Vincent und Jérémie dann etwas später zufällig im Wald begegnen, kommt es zu einer Prügelei, bei der Vincent hart auf den Kopf aufschlägt und tot liegen bleibt. Jérémie buddelt die Leiche notdürftig ein und fährt Vincents Auto auf den Bahnhofsparkplatz in der nächstgrösseren Stadt, um Vincents Abwesenheit plausibel zu machen.

Damit hat es sich dann aber auch schon mit plausibel. Alles, was folgt, ist entweder seltsam, oder verdächtig, oder verdächtig und seltsam.
Vor allem aber ist das alles auf eine ganz stille, unaufdringlich hintergründige Art vergnüglich.
Der Titel des Films beschwört nicht ohne Grund die Barmherzigkeit, in diesem Film wird fast alles vergeben, meist stillschweigend und vorauseilend. Man könnte auch sagen: Die Figuren, mit denen Guiraudie dieses Saint-Martial, die Projektion seines eigenen Herkunftsörtchens Sauclières (da hat er auch gedreht), bevölkert, die sind fast schon provozierend vorurteilslos und offen für alle Möglichkeiten.
Regisseur Alain Giraudie meint dazu:
«Le titre s’est imposé pendant l’écriture de ce scénario. Pour moi la Miséricorde plus que la question du pardon, c’est l’idée de l’empathie, de la compréhension de l’autre au-delà même de toute morale. C’est l’élan vers l’autre. C’est un mot désuet qu’on n’emploie plus beaucoup, et ça correspond très bien au film, à son côté intemporel, et surtout à l’un des grands personnages du film : le curé.»
(Der Titel hat sich während der Arbeit an diesem Drehbuch herauskristallisiert. Für mich ist Barmherzigkeit mehr als die Frage der Vergebung, es ist die Idee der Empathie, des Verständnisses für den anderen, sogar jenseits aller Moral. Es ist der Impuls, auf den anderen zuzugehen. Es ist ein veraltetes Wort, das nicht mehr oft verwendet wird, und es passt sehr gut zum Film, zu seiner Zeitlosigkeit und vor allem zu einer der grossen Figuren des Films: dem Pfarrer.)

Dass der Pfarrer im Film nicht nur ein deus ex machina ist, sondern auch ein advocatus diaboli in eigener Sache, hat mich als faszinierten Kinogänger denn auch noch an die andere Bedeutung von Miséricorde erinnert, jene der mittelalterlichen Miserikordien, diese kleinen Stützbrettchen an den Kirchen-Klappsitzen der Mönche oder Chorherren, welche es den älteren und wackligeren unter ihnen ermöglichten, auch eine längere Stehstrecke in der Messe aufrecht zu überstehen. Denn diese Miserikordien waren nicht nur Hilfskonstruktionen, sondern, kunstvoll geschnitzt, oft auch derbe Karikaturen menschlicher Unzulänglichkeiten.
Miséricorde ist formal ein Hybrid aus Krimi, semi-stationärem Roadmovie und Kleinstadt-Thriller, mit einem parodistisch-referentiellen Hauch von Twin Peaks und mit einer trockenen, queeren Souveränität, vor der man den Hut ziehen möchte.
Im Kino ab 17. April 2025 via Präsens-Film
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