VRACHT von Max Carlo Kohal

© Dschoint Ventschr Distribution

Auf dem Rheinschiff Panerai ist die Besatzung zugleich im Fluss und stationär. Die lyrische Souveränität, mit der dieser Dokumentarfilm arbeitet, erinnert an das Bullet-Time-Konzept der Matrix-Filme.

Rudmer ist ungefähr sechzehn Jahre alt, als wir ihm in Rotterdam erstmals an Deck begegnen. Mit der Scheibenschleifmaschine hat er sich eben durch die dicken Gummihandschuhe in den Finger geschnitten. Er blinzelt hinter seiner Brille, während der Maat ihm die Wunde verbindet: «Früher hätte ich geheult. Jetzt nicht mehr.»

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Rudmer hat kindliche Züge, aber er ist entschlossen, sich durchzubeissen. Mit zwanzig, spätestens einundzwanzig, will er Kapitän sein. Vielleicht auch darum geht ihm Tycho auf die Nerven. Tycho ist der andere Lehrling an Bord. Der ist eher zufällig da gelandet, zeigt wenig Ehrgeiz und ist, in Rudmers Augen, faul. Wahrscheinlich.

Mehr als vier Leute sind kaum je auf dem Schiff, aber die Familienangehörigen kommen hin und wieder auf der Tonspur über die Mobiltelefone dazu; Rudmer spricht mit seinem Bruder. Der Eindruck entsteht, die Rheinschifffahrt sei durchaus eine Familienangelegenheit.

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Max Carlo Kohal hat die Menschen auf der Panerai über Jahre hinweg immer wieder begleitet zwischen Rotterdam und Basel, wo er lebt. Vracht ist sein ZHdK-Diplomfilm.

Der Film schichtet Bilder und Töne, mal ist es ein Dialog zwischen Rudmer und Tycho, dann hören und sehen wir den Kapitän, in seiner Hightech-Kabine, die Panerai II ist ein Containerschiff. Oft sehen wir nur einen der Protagonisten, hören die anderen aber über die Walkie-Talkies, mit denen Schleusenein- und Ausfahrten koordiniert werden, das Anlegen, das Vertäuen an den Pollern, das zentimetergenaue Stapeln der Container.

Das Schiff, die Poller, die Container und der Kran, die Schleusenwände, die Seilwinden: Das alles ist gewaltig.

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Rudmers Schleifmaschinenschnitt in den Finger ist nichts gegen das, was man sich als Kinozuschauer kaum auszumalen getraut, angesichts der schmalen Arme, welche die dicken Taue über die Eisenpoller schieben, die kleinen Menschen unter den tonnenschweren Containern, die sich am Kran herabsenken und mit massivem Lärm auch mal gegen die Bordwand abkippen, bevor sie auf der unteren Schicht einrasten.

Dann hören wir wieder Rudmers ruhige Stimme, über die Bilder gelegt, wie er Off-Kamera vom Leben auf dem Schiff erzählt:

«Wenn man alles zusammen nimmt, ist man sechs Monate zusammen auf dem Schiff. Mit Arbeitskollegen, die wie Freunde sind. Auf dem engen Raum lernt man viel übereinander.»

«Zwei Wochen arbeitet man durch. Dann hat man zwei Wochen frei.»

«Wenn etwas passiert, oder jemand stirbt in der Familie, muss man nicht darüber sprechen, aber man kann.»

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Die Kamera von Lukas Gut fängt Bilder ein, welche manchmal für kurze Zeit grossartig abstrakt aussehen, etwa Details einer vorbeigleitenden Brücke, die sich erst im Rückblick zu erkennen gibt. Manchmal sind die Einstellungen diskret dokumentarisch auf mittlere Distanz. Und hin und wieder atmen sie die ganze Seefahrerromantik von fernen Ländern und einer grossen Welt, gespiegelt im nächtlichen Hafenwasser von Rotterdam, mit Lichtern und dem Meer gleich hinter dem Horizont, was nahtlos übergeht in die unzähligen Szenen von Putzen, Flicken, Schrubben, anlegen, ablegen.

Die andere Welt, die am Ufer, die zieht vorbei im Hintergrund. Mal ein Rummelplatz in der Ferne, mal ein Hauch von Strassburg. Das Leben an Bord ist immer gleich und dauernd anders. Irgendwann ist Tycho weg.

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Genau in der Mitte des Films taucht Leanna auf. Ein feines Mädchengesicht unter der Kapuze der Regenjacke. Rudmer und Leanna sind schnell auf vertraut frotzelnder Distanznähe. Sie erzählen sich gegenseitig von Freund und Freundin und sehen dabei aus wie ein Paar. Als Leanna auf ein anderes Schiff weiterzieht, sagt Rudmer, damit habe er gerechnet, das mache ihm nichts aus.

Man erinnert sich an seinen Satz vom Anfang des Films: «Früher hätte ich geheult. Jetzt nicht mehr.»

Vracht ist ein Dokumentarfilm, der mit Verdichtung und Verschiebung eine lyrische Realität schafft, mehr leistet als eine lineare Erzählung. Montage und Sounddesign, Musik und Ton, die Sprechebenen und die chronologischen Einheiten, sie alle folgen der stationären Entwicklung auf dem Schiff im Fluss, an dem die Ufer vorbeiziehen und die Monate und die Jahre.

Rudmer und Leanne werden sichtlich älter, sehen bisweilen erwachsen und reif aus, dann wieder jünger. Ihre persönliche Entwicklung und die Dynamik ihrer Beziehungen bewegen sich nicht chronologisch, aber logisch und nachfühlbar. Gedreht wurde über mehrere Jahre hinweg, die Montage von Tania Stöcklin und Roman Stocker packt das Material in eine einzige verdichtete Fahrt flussaufwärts von Rotterdam nach Basel, die Protagonisten werden älter gegen den Strom.

Weil alle Elemente dieses Films mehr lyrisch als syntaktisch geschichtet, montiert und kombiniert werden, erinnert Vracht an die Arbeitsweise des Sensory Ethnography Lab von Véréna Paravel und Lucien Castaing-Taylor, welches so bahnbrechend gewaltige Filme wie Leviathan hervorgebracht hat.

Natürlich ist bei Vracht alles ein wenig kleiner, es geht um Fluss- nicht Hochseeschifffahrt, um Lehrlinge auf dem Rhein, und nicht um Moby Dick und die letzten Fragen des Lebens.

Aber gerade darum kommt einem dieser Film ja auch so wunderbar nahe, flussaufwärts, vom Meer her in die Schweiz.

Kinostart 24. April 2025
Daten der Spezialvorführungen mit dem Team: www.vracht.-film.com


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