IMMORTALS von Maja Tschumi

Avin und Milo © cineworx

Die von der irakischen Jugend geprägte «Oktoberrevolution» von 2019 ist Geschichte, aufgesaugt und in den Untergrund gedrängt von konservativen, iranorientierten Kräften. Aber in einer Gesellschaft, die fast zur Hälfte aus nicht wahl- und stimmberechtigten Jugendlichen besteht, lassen sich Unzufriedenheit und revolutionäre Impulse nur mit konstantem Druck kontrollieren.

© cineworx

Dazu dient nicht nur institutioneller Druck, politische Kontrolle und Machtausübung durch den Staatsapparat, sondern auch Familien- und Clankontrolle, wie sie nach den Demonstrationen Milo erfahren hat: Zimmerarrest und patriarchales Ausgehverbot sollen die junge Frau von jeglichem Aktivismus fernhalten und isolieren.

Milo © cineworx

Allerdings scheint das väterliche Interesse an ihr persönlich so gering zu sein, dass sie sich angewöhnt hat, als Mann verkleidet heimlich das Haus zu verlassen. Sie leistet psychologische Betreuung von Missbrauchs- und Gewaltopfern, gibt Computerkurse für Frauen und versucht, gegen den Willen und ohne das Wissen ihres Vaters, wieder einen Pass zu bekommen, um ausreisen zu können.

Das alles kann Filmemacherin Maja Tschumi natürlich nicht einfach mit der Dokumentarkamera begleiten. Die Geschichten von Milo und ihrer Freundin Avin werden in Reenactments nachgestellt und verwoben mit dokumentarischem Material aus diversen Quellen.

Khalili in Action © cineworx

Eine dieser Quellen ist Mohammed Al Khalili, ein Fotograf und Filmer, der seine Berufung und Leidenschaft während der von viel staatlicher Gewalt und Blutvergiessen begleiteten Demonstrationen im Herbst 2019 entdeckte. Vor allem über Social Media hat er die Strassenkämpfe und die Polizeigewalt öffentlich dokumentiert, sein Material bildet den unmittelbarsten Teil von Immortals.

Dazu kommen gegenwärtige Aufnahmen mit Khalili, parallel zu den Reenactments gefilmt, Melak Mahdi (Milo) und Mohammed Al Khalili sind neben Maja Tschumi als Ko-Autoren aufgeführt, sie erzählen also ihre Geschichten und die jüngere Geschichte ihres Landes und ihrer Stadt mit.

Das Resultat ist ein hybrider Dokumentarfilm, der sein Publikum ziemlich mitnimmt.

Mohammed Al Khalili © cineworx

Die rohe Gewalt, die Strassenkämpfe, das Adrenalinhoch beimi Kriegsfotografen Khalili und die manchmal fast thrillerartig unglaublichen Momente aus Milos Untergrundfrauenleben in Männerkleidern lösen nicht nur Entsetzen und Wut aus, sie provozieren beim Kinopublikum auch so etwas wie punktuelle Trotzreaktionen.

Als Zuschauer kann ich mich gegen die emotionale Mitnahme verwahren, indem ich einzelne Momente in Frage stelle, ihre Glaubwürdigkeit ankratze, was gerade im Hinblick auf die offenen Fragen zu Milos unsichtbar bleibender Familie fast von selbst passiert. Aber dann hämmern wieder andere, unverdrängbar reale Momente in die Gegenrichtung.

Abgrenzung und Parteinahme sind grundlegende Impulse, sie bilden mit ihren gegensätzlichen Drehmomenten den emotionalen Motor in jeder Erzählung. Als Dokumentarfilmerin definiert sich Maja Tschumi denn auch nicht irgendwo auf einem pseudoneutralen Standpunkt, sie arbeitet mit der Dynamik zwischen Erwartung, Haltung und Widerspruch.

Milo und Avin © cineworx

Bei ihrem Dokumentarfilm Rotzloch von 2022 war ihr die Doppelrolle als Aktivistin, als politisch und sozial denkende Frau und gleichzeitig als Filmemacherin sehr bewusst und sie zeichnete den Film auch aus.

Immortals ist in dieser Hinsicht nicht nur viel komplexer, sondern auch entsprechend vielschichtiger.

Wir haben die Auto-Erzählung der Ko-Autorin und des Ko-Autors, wir haben Maja Tschumis inszenierte und dokumentarische Aufnahmen. Wir haben im Hintergrund ein Netzwerk aus lokalen Helferinnen und Helfern, welche die Arbeit überhaupt erst möglich machten, und gleichzeitig zusammen mit dem Produktionsteam die aktuelle und zukünftige Sicherheit der Protagonistinnen so weit wie möglich zu garantieren suchten.

Damit leistet Immortals fast alles, was ein guter Dokumentarfilm leisten kann: Aufklärung und Information, Emotionalisierung, Einordnung und – absolut zentral – die Aufforderung zum Nachfragen und Nachforschen.

Was dieser Film, anders als viele andere, nicht mitliefern kann, ist das implizite «Making of», die völlige Transparenz zu seiner Herstellung. Aus  absolut nachvollziehbaren Gründen. An die Stelle dieses Blicks unter die Motorhaube rückt dafür um so mehr die Haltung. Jene der Autorinnen und Autoren, die gleichzeitig Protagonisten sind, vor und hinter der Kamera.

Das macht Immortals zu einer Verpflichtung, die das Publikum in den meisten Fällen wohl annehmen dürfte. Da kommt niemand unbeeindruckt aus dem Kino.

Immortals hat an den Solothurner Filmtagen
im Januar den Prix de Soleure gewonnen.

Im Kino ab 24. April 2025


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