
«Ich hatte schon eine klare politische Haltung. Das war damals nicht unbedingt normal: Eine Schwuchtel zu sein war das eine. Aber politisiert und links zu sein, war etwas anderes. Die Ehe passte nicht zu meinen Ansichten. Wir hätten darauf verzichten können. Es war alles Teil eines Kampfes, bei dem es um die Freiheit ging. Alle waren überzeugt, dass es eine offizielle Trauung war! Viele Schwule fragten uns: ‘Wie habt ihr es bloss geschafft, zu heiraten?’»
Heiraten, weil sie es eigentlich nicht durften, aus politischen Gründen, das scheint typisch für Massimo Milani und Gino Campanella. Während sie auf der Tonspur von Quir von ihrem politischen Engagement erzählen, das unter anderem zur Gründung von Arcigay führte, Italiens erster grosser Schwulenorganisation, sitzen sie am Tischchen auf der Strasse gegenüber von ihrem kleinen Lederwaren-Atelier in Palermo, dem «Quir», und essen Spaghetti.
Alles kommt beiläufig, abgeklärt, meist fröhlich daher, was uns Nicola Bellucci mit diesem aussergewöhnlichen Dokumentarfilm näher bringt.

Palermo ist sonnig, Massimo und Gino sind liebevoll und souverän, witzig im Umgang mit den vielen schwulen, genderfluiden, transphilen Freund/innen, für die der kleine Laden ein fixer Treffpunkt ist, und Bellucci geht mit Kameramann Pierre Mennel, der Geschichte und dem Leben einiger dieser Freunde nach, scheinbar zufällig, im Maskenjahr 2022.
Wir lernen den 92jährigen Charly Abbadessa kennen, der als Einwanderersohn aus Sizilien in den USA aufgewachsen ist, in New York mit Robert Lewis, dem Mit-Gründer des Actors Studio zusammenlebte und sie alle kannte, die heimlich und weniger heimlich schwulen Hollywoodstars von Michael Curtiz über Rock Hudson bis Marlon Brando und James Dean – jedenfalls in seinen nicht enden wollenden Erzählungen, die durchaus glaubwürdig erscheinen.

«Warum redest Du dauernd über früher?», zieht ihn Massimo einmal auf. «Was soll ich dir schon Interessantes über die Zukunft erzählen», entgegnet Charly entwaffnend, «dass ich heute Truthan gekocht habe…?»

Nicola Bellucci schneidet einmal eine Szene aus Michael Curtiz’ Francis of Assisi (1961) ein, in der Charly augenscheinlich einen kurzen Auftritt als Mönch hatte. Und in Charlys grosser, leerer Wohnung in Palermo tanzt in einer anderen Szene wie ein CGI-Traumbild Rock Hudson unter einem Glassturz, eine ebenso poetische wie leise kitschige Umsetzung von Charly Erinnerungen durch den Filmemacher.
Aber wie alle Protagonisten in diesem Film, ist auch Charly bei aller Schwärmerei oft ausgesprochen analytisch und reflektiert, geschult durch ein Leben als einer der «anderen». Hollywood habe «manly men» gefordert, und so hätten sie eben alle diese gespielte Männlichkeit perfektioniert.

Was wiederum wunderbar zu Ernesto Tomasini passt, Drag Queen, Sänger und Performer, ein selbstgelabelter «fluider» Schwuler, der die Verwandlung über alles stellt und sich nicht festlegen will. Ausser im Hinblick auf die liebevolle Betreuung seiner dementen Mutter. Für sie hat er seine Karriere in London abgebrochen und den mütterlichen Haushalt in Palermo in eine Art Performance-Care-Home verwandelt, mit Freundinnen und Freunden, die mithelfen, mittanzen oder sich auch einfach gemeinsam für die Gay Parade aufbrezeln.
Erstaunlicherweise hält Nicola Bellucci den fröhlich-liebevollen Tonfall fast den ganzen Film über aufrecht, ohne dass einen das Gefühl beschleichen würde, man sitze einer Beschönigung auf. Denn der soziale Kampf um Freiheit, gegen Diskriminierung, Verfolgung, Ermordung ist durchgehend präsent, in allen Erzählungen und Erinnerungen.
Das fängt an mit Massimos Performance zu Beginn des Films, wenn er eine ganze Litanei verächtlicher Bezeichnungen für Schwule ins Mikrofon deklamiert, geht weiter mit der Wiederholung der Heirat von Massimo und Nino, diesmal rechtlich abgesegnet, aber wiederum inszeniert in Erinnerung an die Tötung von zwei Schwulen in Palermo, welche seinerzeit die Initialproteste auslösten.

Und dann ist da im Quir-Freundeskreis auch die Transfrau Vivian Bellina, die immer wieder ihre eigenen Schwierigkeiten thematisiert, im Austausch mit Massimo ihren Weg sucht, und schliesslich von Bellucci in einer bizarren nächtlichen Performance mit schwarzen Engelsflügeln im Staub einer Gasse gefilmt wird, als ebenso kunstvolle wie eindringliche Erinnerung daran, dass die persönliche Freiheit all der liebenswerten Menschen in diesem Film von einem permanenten Kampf begleitet ist.
Quir ist ein fröhlicher, ein liebevoller Film und nicht zuletzt auch für die Ohren ein harmonisches Fest, dank dem swingend-jazzig volatilen Score von Roberto Lobbe Procaccini und Valerio Vigliar und vielen, vielen musikalischen Zitaten. Dass der Tod, und vielleicht auch der Teufel, stets mit dabei sind, das wiederum anerkennen die ProtagonistInnen mit Witz und Chuzpe und grosser, ansteckender Solidarität.
Quir wurde mit dem Publikumspreis Prix du Public
der 60. Solothurner Filmtage ausgezeichnet.
Im Kino ab 8. Mai 2025
Schweizer Kinovorpremieren:
Mittwoch, 7.5.2025, 20.30 Uhr, kult.kino atelier, Basel, Schweiz
Donnerstag, 8.5.2025, 20.15 Uhr, Kino Sputnik, Liestal, Schweiz
Freitag, 9.5.2025, 20.15 Uhr, Kino Rex 1, Bern, Schweiz
Pink Apple Film Festival / Kinovorpremieren in Zürich & Frauenfeld:
Dienstag, 6.5.2025, 20.30 Uhr, Kino Riffraff 4, Zürich, Schweiz
Mittwoch, 7.5.2025, 18.30 Uhr, Kino Riffraff 1, Zürich, Schweiz
Sonntag, 11.5.2025, 15.15 Uhr, Cinema Luna 1, Frauenfeld, Schweiz
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