SANTOSH von Sandhya Suri

Santosh (Shahana Goswami) © Sister Distribution

Der zentrale Satz in diesem eindrücklichen Film kommt von der interessantesten Figur, ganz zum Ende hin:

«Es gibt zwei Sorten von Unberührbaren in diesem Land. Jene, die niemand berühren will. Und diejenigen, die niemand berühren darf».

Damit erfasst die alternde, engagierte, korrupte und korrumpierte Polizistin Sharma (Sunita Rajwar) das traditionelle indische und das zeitgenössische globale Kastensystem. Sie hat ihr ganzes Berufsleben dem Kampf gegen den Sexismus, die allgegenwärtige und systemische Gewalt gegen Frauen gewidmet, eine effiziente Brigade aufgebaut, Vergewaltiger und Frauenmörder ermittelt, überführt und einer Strafe zugeführt. Mit legalen und mit illegalen Mitteln. Und dies in einem konstanten Balance-Akt innerhalb des nicht minder sexistischen und korrupten Polizeiapparates.

Sandhya Suri © Festival de Cannes

Die in London lebende britisch-indische Sandhya Suri hat es mit ihrem Debütfilm direkt ans Filmfestival von Cannes von 2024 geschafft, in die Reihe «Un Certain Regard». Und ihr Blick auf Indien ist tatsächlich sehr eigen. Und sehr sicher.

Santosh (Shahana Goswami) © Sister Distribution

Erzählt wird aus der Perspektive der Titelfigur. Santosh (Shahana Goswami) ist die junge Witwe eines Polizisten, der während eines Einsatzes bei Unruhen ums Leben gekommen ist. Die Familie ihres Mannes will nichts von ihr wissen, die Dienstwohnung müsste sie verlassen und zu ihren eigenen Eltern zurückkehren. Gäbe es da nicht diese als Sozialmassnahme getarnte Rekrutierungsmethode, die es den Angehörigen von im Dienst verstorbenen Polizeikräften ermöglicht, deren Stelle zu «erben».

So wird Santosh, ohne Ausbildung und Erfahrung, einer Gruppe von Polizistinnen zugeteilt, die sich vornehmlich um jene Dinge zu kümmern haben, die ihren männlichen Kollegen zu banal oder heikel erscheinen. Häusliche Streitfälle, Vergewaltigungen, oder die Sorgen eines Vaters, dessen vierzehnjährige Tochter verschwunden ist.

Eine Polizistin gegen alle Männer: Santosh (Shahana Goswami) © Sister Distribution

Angesichts der Untätigkeit und des Desinteresses ihrer männlichen Kollegen (und ihres Vorgesetzten, der sie so ganz nebenbei als Haushaltshilfe für seine Frau einsetzen möchte) entwickelt Santosh allerdings ein detektivisches Gespür.

Als die geschändete und verstümmelte Leiche des Mädchens schliesslich im Brunnen der untersten Kaste in einem Dorf gefunden wird, zieht die junge Polizistin mit ihrer Beharrlichkeit und ihren Ermittlungen die Aufmerksamkeit der beigezogenen Spezialistin Sharma auf sich, die sie unter ihre Fittiche nimmt.

In mancher Hinsicht erinnert Santosh an die im April angelaufene Schweizer Koproduktion The Shameless, die Geschichte zweier Frauen im indischen Kastenprostitutionssystem, ebenfalls eine Sozialstudie, effizient als Krimi aufgezogen. Und mit einer ähnlichen zentralen Prämisse: Die wahren Unberührbaren sind die Mächtigen.

Sharma (Sunita Rajwar), Santosh (Shahana Goswami) © Sister Distribution

Sandhya Suri gelingt mit ihren zwei zentralen Frauenfiguren eine interessante Spiegelkonstellation. Denn letztlich ist die junge Santosh, mit ihrem Gerechtigkeitsgefühl, ihrer klaren Sicht auf die sexistischen Verhältnisse und mit ihrer Anpassungsfähigkeit, für die viel ältere Sharma klar ein Abbild ihrer eigenen idealistischen Ursprungsversion.

Santosh ist als feministischer Polizeithriller in einem für westliche Augen exotisch-extremen Milieu angesiedelt. Der Film funktioniert hervorragend als Ermittlungsgeschichte voller Suspense und Gewalt, aber gleichzeitig als subtile Schilderung weiblicher Erkenntnis- und Anpassungsprozesse innerhalb einer offen sexistischen Gesellschaft – mithin als packender Spiegel unserer eigenen, deutlich versteckteren Verhältnisse.

Im Kino ab 22. Mai 2025


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