
Italiens Filmemacher sind besessen von Italiens Politikern. Jedenfalls jene ihrer Generation und deren Väter. Marco Bellocchio hat mit Buongiorno, notte (2003) die Entführung und Ermordung Aldo Moros durch die Brigate rosse rekonstruiert. Paolo Sorrentino hat Giulio Andreotti Il divo gewidmet, und dem Phänomen Silvio Berlusconi gar einen Zweiteiler mit Loro 1 und Loro 2. Und Nanni Moretti, der 1991 in Il portaborse von Daniele Lucchetti als Schauspieler die Mühlen politischer Korruption durchlitt, hat in seinen Filmen immer wieder direkt Bezug genommen auf die reale italienische Politik. Mit Il sol dell’avvenire (2023) hat er zuletzt gar die Wechselwirkungen und Ähnlichkeiten zwischen Filmemachern und Politikern direkt auf die Schippe genommen.
Andrea Segre kommt vom Dokumentarfilm, sein Berlinguer profitiert davon, dank etlicher dokumentarischer Archiveinschübe und sorgfältiger Abwägung. Aber Berlinguer: la grande ambizione ist dennoch, wie der Titel vermuten lässt, ein Heldenporträt.

Segre erzählt die heroische Geschichte von Enrico Berlinguer, jenem Mann, dem es als Generalsekretär der kommunistischen Partei Italiens in den 1970 Jahren beinahe gelungen ist, seine Partei dank sorgfältiger Distanzierung von der Sowjetunion und klarem Bekenntnis zur Nato zu einem ernstzunehmenden Faktor in der italienischen und europäischen Politik zu machen.
Bis die Ermordung Aldo Moros durch die roten Brigaden eine bereits aufgegleiste Koalition der PCI mit Andreottis Christdemokraten 1978 torpedierte.
Der «Compromesso storico» (Historischer Kompromiss) ist schon eine zentrale Idee in Berlinguers politischem Denken, als der Film 1973 mit seinem Besuch bei Schiwkow in Bulgarien einsetzt. Nach einem Autounfall auf der (gesperrten) Autobahn, der vielleicht ein Mordanschlag des bulgarischen Geheimdienstes im Auftrag des KGB war, schreibt er im Spital in Sofia einige seiner programmatischen Texte.
Der Film zieht schnell die Parallele zum von den USA unterstützten Militärputsch gegen Salvador Allende in Chile im gleichen Jahr. Überhaupt ist der kalte Krieg den ganzen Film hindurch ein einleuchtendes Moment im Hinblick auf die tatsächliche BEdeutung von Berlinguers Versuchen, die Abhängigkeiten der PCI von den Sowjetischen Zahlungen und (Des-)Informationsdienstleistungen zu reduzieren.

Es gehe darum, das zu verhindern, was in Chile passierte, erklärt Berlinguer einmal. Er meint damit das Eingreifen in die souveräne Politik seines Landes durch die USA.
Interessant ist dabei ein Detail innerhalb des politischen Kulturkampfes in Italien, das eine klare Parallele zum Kampf um das Abtreibungsrecht in den USA in den letzten Jahren aufweist: Das Scheidungsreferendum, welches (unfreiwillig) den zuvor kirchlich dominierten Staat zum säkularen Staat machte.
RAI News rekapituliert 50 Jahre später:
Am 12. und 13. Mai 1974 gingen 87,7 Prozent der Wahlberechtigten in Italien an die Urnen, um an einem Referendum teilzunehmen, das von der Democrazia Christiana unter Amintore Fanfani vorangetrieben wurde. Ziel war es, das vier Jahre zuvor eingeführte Recht auf Scheidung wieder abzuschaffen. Die Ergebnisse, die live im Fernsehen verkündet wurden, zeigten ein säkulares Italien, das sich deutlich für die Beibehaltung des Scheidungsrechts entschieden hatte.
33 Millionen Menschen nahmen an der Abstimmung teil: 40,7 Prozent von ihnen sprachen sich gegen das Recht auf Scheidung aus, eine mit 59,3 Prozent überwältigende Mehrheit war jedoch dafür. Gegen die Scheidung waren der DC und die extreme Rechte (Movimento Sociale Italiano-Destra Nazionale). Für das Nein warben die weltliche Front aus Kommunisten, Radikalen, Sozialisten, Republikanern und Liberalen.
Segres Berlinguer ist eine instruktive, spannende Dokufiktion, eine Geschichtslektion mit familiären Einschüben.

Elio Germano in der Titelrolle ist charismatisch und überzeugend, und es gibt dramatische Momente, die jenseits aller historischen Fakten in Erinnerung bleiben. Etwa die Szene, in der Berlinguer seine Frau und seine Kinder versammelt, ihnen erklärt, warum die PCI angesichts der Entführung Aldo Moros auf Kompromisslosigkeit bestand und die Ermordung des Politikers in Kauf nahm: «Sollte ich jemals in der Situation Moros sein, dann müsst ihr wissen, dass ich keine Verhandlungen mit meinen Entführern wünsche. Selbst wenn ich dann allenfalls unter Zwang etwas anderes sage».
Im Kino ab 22. Mai 2025
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