BERGERS (Schäfer) von Sophie Deraspe

Félix-Antoine Duval, Solène Rigot © Agora Films

Mathyas ist am Tiefpunkt angelangt, ausgerechnet jetzt, wo ihn die quirlige Élise auf dem zerfallenden Hof in der Provence besucht:  «C’est violent ici. Même le soleil est violent!» – «Alles hier ist voller Gewalt. Sogar die Sonne ist bösartig…»

Der junge Aussteiger hat die Werbeagentur in Kanada verlassen, um in der französischen Provence als Schäfer anzuheuern. Ohne Erfahrung, ohne Aufenthaltsbewilligung, aber wild entschlossen, das «richtige» Leben zu finden. Und vielleicht ein Buch zu schreiben.

Élise ist die junge Beamtin im Büro der Einwohnerkontrolle in Arles, die ihm eröffnet, dass er keine Chance habe, eine Arbeitserlaubnis zu bekommen. Den Antrag dafür hätte er von Kanada aus stellen müssen. Seine Offenheit, sein Charme und seine Verzweiflung haben es ihr angetan: Man könne ja auch schwarz arbeiten…

Félix-Antoine Duval in ‚Bergers‘ © Agora Films

Der erste Schafzüchter, der den motivierten jungen Mann versuchsweise auf seinen Hof mitnimmt, bringt ihn nach zwei Stunden zurück zur Bushaltestelle. Bei der anstehenden Wanderung mit dreitausend Schafen habe niemand Zeit, ihm die Grundlagen des Handwerks beizubringen. Sorry.

Dann landet er bei dem alten Ehepaar, das mit einem auch nicht mehr jungen Marokkaner versucht, den Widrigkeiten des Schafzüchterlebens zu trotzen. Im Fall des Bauern ganz wörtlich. Der Mann ist dauernd kurz vor dem Explodieren, für seinen alten Schäfer sind die Schafe stinkende, blökende Gegner, an denen er seinen Lebensfrust auslässt.

Es braucht brutalen Realismus, um der abgenutzten Schäferromantik beizukommen. Schliesslich haben auch die Aussteigergeschichten der Hippiezeit der reinen Idylle eine politisch-dialektische Note gegeben, man denke etwa an die Longo Maï-Kooperativen der 68er.

Solène Rigot in ‚Bergers‘ © Agora Films

Sophie Deraspe übersteigert den autobiografischen Roman «D’où viens tu, berger?» des Kanadiers Mathyas Lefebure mit scharfem, bisweilen hyperdokumentarischem Realismus zu einer Meta-Pastorale, die sich vor gar nichts zu fürchten scheint.

Dabei hält sie sich mit bewundernswerter Sturheit an die formalen Vorgaben des Genres, mit der gleichen Sturheit notabene, mit welcher der Protagonist seinen Traum verfolgt, wider besseres Wissen.

Der bukolische Schäferroman, in seiner barocken Hochblüte, folgt einer eigenen Erzählnorm, wie alle populären Formate bis heute, von den Landarztromanen bis zu Rosamunde Pilcher:

Schäfer und Schäferinnen treten auf, sie verlieben sich und bestehen Abenteuer. Die blind machende jugendliche Liebe wird aber schließlich durch die Vernunft bezähmt und die jungen Menschen erlangen das seelische Gleichgewicht zurück.

‚Bergers‘ © Agora Films

Der Witz (und das erzählerische Genie) des Films besteht allerdings gerade darin, dass die Protagonisten, insbesondere Mathyas, eben keine naiven Aussteiger sind, sondern belesene, kritisch denkende und bewusst handelnde Menschen, welche die Überwältigung durch die Natur geradezu suchen.

Dass Regie und Plot den Helden konsequent zuerst einmal den Abstieg in die kontraidyllische Realitätshölle durchleiden lassen, hilft später beim Aufbau der Heilsgeschichte. Und Sophie Deraspe geht in alle Richtungen weiter, als der vordergründig dokumentarische Duktus ihres Films ahnen lässt. Sie lockt ihr Publikum richtiggehend in die Falle, nicht ohne Witz.

Félix-Antoine Duval, Solène Rigot © Agora Films

Die irrste Szene in dieser Hinsicht ist wohl die Sequenz, in der Mathyas in seiner schäbigen Kammer im zerfallenden Gehöft einen Brief von Élise liest, sich zusammen mit ihr nackt auf einer Alpwiese im Liebesspiel vorstellt, bloss um dann von der an seine Tür polternden Bäuerin mitten aus seinem Masturbationstraum gerissen zu werden. Die Meisterin braucht Hilfe bei den Komplikationen mit einem trächtigen Schaf. Das Schaf hat einen Gebärmuttervorfall, und die Bäuerin instruiert Mathyas im Einführen eines Pessars in die Vagina des Mutterschafs.

Dass Ahmed, der alte Schäfer, irgendwann erklärt, den Schafen sei nur mit Rassismus beizukommen, passt dazu eben so wie der finale Ausraster des alten Bauern, der die teuer eingekauften Zuchtböcke für ihre Schafbespringungsunlust bestrafen will, indem er sie mit dem Auto über den Haufen fährt.

Mathyas und Élise treten die Flucht an, und nun kommt die Schäferidylle zu ihnen, in Gestalt einer weltoffenenen Züchterin, die ihnen ihre Herde von zweitausend Schafen für den Alpsommer anvertraut. Aber keine Angst: Das Schicksal weiss, was es dem Kino schuldig ist.

Bergers ist ein prächtiger Film, der seine Versprechen mehr als einhält und jeden Hirtenidyllskeptiker zu überzeugen weiss.

Dass der Schweizer Erich Langjahr mit seiner Hirtenreise ins dritte Jahrtausend die einschlägige dokumentarische Vorleistung schon vor mehr als zwanzig Jahren erbracht hat, hilft Bergers überraschenderweise für uns Deutschschweizer erst recht auf die Sprünge. Denn dieser Film leistet das beinahe Unmögliche. Er bedient die Sehnsucht und die Skepsis, er ist zugleich meta und real, realistisch und verträumt.

Und darüber hinaus bisweilen auch einfach prächtig und, dank seinen charismatischen Hauptdarstellern Félix-Antoine Duval und Solène Rigot, ziemlich hinreissend.

Im Kino ab 29. Mai 2025


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