
Als sie von der freundlichen Frau beim Vorstellungsgespräch gefragt wird, was sie denn so in ihrer Freizeit mache, fällt Aurora spontan bloss «die Wäsche» ein. Dann verstummt sie, und schliesslich laufen ihr die Tränen übers Gesicht. Tatsächlich hat die Portugiesin in ihrem Arbeitsexil im schottischen Edinburgh weder die Energie noch die «social skills», um die paar Stunden zwischen Schichtende und Erschöpfungsschlaf mit mehr als permantem Doomscrolling auf dem Mobiltelefon zu füllen.
Zu wenig zum Leben, zuviel zum Sterben. Das gilt zwar auch für Auroras Verdienst, welchen sie als «Picker» in diesem Amazon-ähnlichen Warenverteilzentrum erzielt. Vor allem aber gilt der Satz für die Lebensqualität. Die Arbeit ist öde, entfremdet, enorm anstrengend und komplett sinnlos.

Ausgerüstet mit einem pistolenartigen Handscanner und einem Einkaufstrolley sammelt Aurora in den endlosen Gängen des Warenhauses die Produkte für einzelne Kundenbestellungen ein. Bücher, Kosmetika, Küchenutensilien. Überraschend viele Dildos und sonstige Sexspielzeuge. Und Wäscheleinen. Immer wieder Wäscheleinen. Das fällt ihr allerdings erst auf, nachdem sich der Kollege umgebracht hat, von dem sie beim zaghaften Flirten in der Kantine den Spruch mit der Wäsche als einziger Freizeitbeschäftigung gehört hat.
Wie die Protagonistin ihres ersten Langspielfilms stammt auch Regisseurin Laura Carreira ursprünglich aus Portugal. Am Edinburgh College of Art hat sie Film studiert und mit ihren dokumentarisch präzisen Kurzfilmen bald erste Festivalerfolge erzielt.
Dass Laura Carreiras Langfilmdebut von Ken Loachs Company Sixteen Films produziert wurde, passt wunderbar. Denn Carreiras sorgfältiger Blick in die ausbeuterischen Mechanismen der Arbeitswelt umfasst vieles von dem, was Loach und seine Mitstreiterinnen stets umgetrieben hat.
Zugleich aber ist Carreiras Zugang radikal anders als der stets sozialdidaktisch und systematisch kapitalismuskritisch unterfütterte Ansatz von Ken Loach und seinem langjährigen Drehbuchautor Paul Laverty.

Laura Carreira zeigt das Leben ihrer Protagonistin mit dokumentarisch-alltäglicher Zurückhaltung. Als Kinogänger erfahren wir stets etwas weniger von und über Aurora, als wir gerne wissen möchten. Wo kommt die Frau her? Wie lange ist sie schon in England? Warum hängt sie in jeder freien Minute am Bildschirm ihres Telefons, ohne je zu kommunizieren?
Wir stellen fest, dass es für sie eine Katastrophe ist, als ihr das Mobiltelefon auf den Boden fällt und nicht mehr funktioniert. So sehr, dass sie das Gerät so schnell wie möglich reparieren lässt, auch wenn das faktisch bedeutet, dass sie kein Geld mehr hat, um Lebensmittel zu kaufen oder in der zusammengewürfelten Wohngemeinschaft ihren Stromanteil zu bezahlen.

Wir sehen, wie sie zögernd, aber doch gerne die Einladung des neuen polnischen Mitbewohners annimmt, mit ihm und ein paar Freundinnen und Freunden im Club unten an der Strasse ein Bier zu trinken. Wir werden Zeuge, wie sie auf der Sitzbank im Club kurz den Kopf an seine Schulter lehnt, sich aber sofort zurückzieht, als er gezielt nicht reagiert.
Wir erleben, wie ihre Kolleginnen und Kollegen im Warenhaus mit der absurden Arbeit umgehen, wie eine Frau von der PR-Abteilung einer Gruppe von Besuchern erklärt, die Produkte würden vom Warenwirtschaftssystem gezielt nach dem Zufallsprinzip auf den Gestellen verteilt, um die Gefahr von Staubildungen bei den Pickern zu reduzieren, wenn ein gerade sehr gefragtes Produkt ansonsten alle dauernd an den gleichen Abholpunkt bringen würde. So werden die Picker von ihren stets die Arbeitszeit überwachenden Handscannern piepsend in Bewegung gehalten und treffen nur ganz selten in den Gestelllabyrinthen auf andere Picker.
On Falling ist vordergründig fast schon provozierend unspektakulär. Die Alltäglichkeiten, die wir vorgeführt bekommen, ergänzen sich ganz langsam und fast unmerklich zum Bild eines von jeder Bindung, Hoffnung und Zukunft entkoppelten Lebens in dieser Gig-Economy, welche mit Arbeitskräften umgeht wie der Warenlagercomputer mit den nach Zufall gegen Sammelstau verteilten Versandgütern.

Wenn Laura Carreiras Film sich mit einem anderen vergleichen lässt, dann am ehesten mit den eben so grossartig antispektakulär einfühlsamen Filmen von Kelly Reichardt, etwa Showing Up oder First Cow. Aber eigentlich ist On Falling ein einzigartig nachhaltiges Erlebnis, mit einer emotionalen Halbwertszeit, welche die Lauflänge von 104 Minuten um ein Vielfaches übertrifft.
Ich werde nie mehr eine aufgerollte Wäscheleine sehen können, ohne gleich an ein blaues Dildo denken zu müssen. Ganz ernsthaft.
Im Kino ab 12. Juni 2025
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