MILCHZÄHNE von Sophia Bösch

Das Waldmädchen Meisis (Viola Hinz) © dschointventschr

Wolfskinder haben ganz kleine Zähne, die nie ausfallen. Erst wenn die Milchzähne ihrer Kinder ausfallen, können Eltern und Dorfbewohner darum sicher sein, dass ihr Nachwuchs nicht durch ein Wolfskind aus dem Wald ersetzt worden ist.

Die 19jährige Skalde ist die beste Spurenleserin und Jägerin der kleinen Dorfgemeinschaft. Wie alle anderen Jugendlichen trägt sie ihre Milchzähne als Kette um den Hals. Und das kleine Mädchen, das aus dem Wald gekommen ist, zu ihr und ihrer Mutter Edith, das müsste Skalde eigentlich töten.

Die schwedisch-schweizerische Regisseurin Sophia Bösch hat für ihr eindrückliches Spielfilmdebüt den gleichnamigen Erstlingsroman der fünf Jahre jüngeren Helene Bukowski mit einer erstaunlich ruhigen, durchschlagenden Perfektion umgesetzt.

Milchzähne ist vordergründig ein realistischer Film über die Angst vor dem Fremden und die Abschottung, erzählt mit einem Hauch von Hexenjagd und Aberglaube, psychologisch stimmig und ohne Schockeffekte.

Skalde (Mathilde Bundschuh) gegen das Dorf © dschointventschr

Bösch evoziert zwar sehr subtil die seit Robert Eggers’ The Witch (2015) und Ari Asters Midsommar (2019) enorm populär gewordenen neuen Folk-Horror-Filme. Sie emuliert aber inszenatorisch, wenn überhaupt, eher den frühen Ingmar Bergman von Jungfrukällan (1960) oder, mit dem überaus deutschen Setting, und bis hin zur kontrollierten Kameraführung, Das weisse Band von Michael Haneke.

Unter der ruhigen Oberfläche dieser dystopisch-realistischen Postapokalypse brodeln allerdings nicht nur bewährte Elemente der Film- und der Kulturgeschichte, da kochen auch noch ganz andere Ängste und Zwänge.

Skalde (Mathilde Bundschuh) © dschointventschr

Skalde (Mathilde Bundschuh) ist eine angepasste Rebellin. Ihre Mutter Edith (Susanne Wolff) ist im Dorf die Fremde geblieben; sie durfte nach ihrer Ankunft nur in der Gemeinschaft bleiben, weil der Vater ihrer Tochter aus dem Dorf stammte. Und sie trägt die Reintegrationsmarkierung, welche die Dorfgemeinschaft ihren als Dissidenten oder als asozial denunzierten Mitgliedern angedeihen lässt: Eine zertrümmerte linke Hand.

Während Edith für die Dorfgemeinschaft nichts als Verachtung übrig hat, hat sich Skalde ihr Leben lang darum bemüht, sich als Teil der Gemeinschaft zu beweisen, anders zu sein als ihre Mutter. Bis die kleine Meisis bei ihnen auftaucht, wie die streunenden Hunde, denen Edith, gegen die Regeln des Dorfes, stets Asyl gewährt hat.

Edith (Susanne Wolff) mit Meisis (Viola Hinz) © dschointventschr

Die Regeln des Dorfes sind patriarchal-archaisch, der Mann, der sie kalkuliert zur Kontrolle der Ängste durchsetzt, ist der von Ulrich Mathes gespielte Pesolt. Und im ganzen Regelwerk sind es schliesslich die Frauen und die Kinder, die am leichtesten Gefahr laufen, an der erzwungenen Anpassung zugrunde zu gehen.

Sophia Bösch zeichnet ihre Figuren mit wenigen Szenen plastisch und greifbar, dabei helfen die Darstellerinnen und Darsteller, die mit ihren ausgesucht markanten Gesichtern zu lebendigen, individuellen Archetypen werden.

Pesolt (Ulrich Mathes) Skalde © dschointventschr

Das erstaunlichste an Milchzähne ist allerdings die hypnotisch-präzise Informationsstrategie über Drehbuch und Montage.

Jede Einstellung, jede Sequenz ist für sich genommen zwingend. Und jede Szene wirft eine neue Frage auf, die in einer der nachfolgenden gezielt beiläufig beantwortet wird – unter eben so beiläufigem Aufwerfen neuer Fragen. Das erzeugt einen fast unmerklichen Sog, eine Erzähldynamik, die in aller Ruhe auf ein zwingendes, aus der Zwangsgemeinschaft hinausführendes Ende zu treibt.

Milchzähne ist ein reifer, eindrücklich kompakter und lange nachhallender Film, der diverse ebenso schlüssige wie variable Interpretationen zulässt. Ein Kunstwerk mit der Wucht eines Märchens und der Ruhe eines Gedichtes.

Zuerst gesehen am 23. NIFFF letzten Sommer.
Im Kino ab 12. Juni 2025


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