
La canicule, die Hitze der Hundstage, liegt über Marseille, und das Leben der Frauen-WG von Ruby (Souheila Yacoub) und Nicole (Sanda Codreanu) findet hauptsächlich auf dem Balkon statt. Als dann auch noch Freundin Elise (Noémie Merlant) aus Paris dazustösst, im engen roten Kleid und mit Marilyn-Monroe-Look, japsend vor Atemnot, ist der Rahmen gesetzt für eine fröhliche Sommerkomödie. Dabei müsste das Publikum eigentlich gewarnt sein, denn die ersten Einstellungen des Films erinnerten nicht nur an Hitchcocks Rear Window, sondern zeigten auch fast beiläufig einen möglicherweise mörderischen Ehedisput auf dem Nebenbalkon.
Die Verweise auf andere Filme und Figuren kommen nicht von ungefähr, genauso wenig wie die blonde Perücke, welche Regisseurin Noémie Merlant in ihren ersten Szenen trägt. Elise ist Schauspielerin und hat eben in Paris in der Titelrolle einen Fernsehfilm über die Affäre von Marilyn Monroe mit Yves Montand während der Dreharbeiten zu Let’s Make Love abgedreht. Der Moment, in dem Elise die blonde Perücke schliesslich vom Kopf zieht, ist einer von etlichen überraschenden Kippunkten in der wilden, metaphorisch explosiven und stilistisch hypereklektischen Achterbahnfahrt von Les femmes au balcon.

Noémie Merlant gehört gegenwärtig zu den experimentierfreudigsten Schauspielerinnen Frankreichs. Sie spielte die Malerin Marianne, welche in Céline Sciammas grossartigem Portrait de la jeune fille en feu Adèle Haenels Héloïse porträtierte und liebte. In Jacques Audiards Les Olympiades, Paris 13e war sie die Studentin, welche wegen einer blonden Perücke mit einem bekannten Cam-Girl verwechselt wurde. Und im seltsam inerten, feministisch invertierten Emmanuelle-Remake von Audrey Diwan übernahm sie die Titelrolle.
Mit all diesen Rollen (und jener aller Frauen) setzt sie sich auseinander über ihren sommerlich leicht einsetzenden Spielfilm Les femmes au balcon.
Die drei zentralen Frauenfiguren grenzt Noémie Merlant recht präzise voneinander ab. Nicole wäre gerne eine Autorin. Sie kämpft mit ihrem Roman und den Vorgaben des Schreibkursleiters. Sie sitzt auf dem Balkon, schreibt, verwirft, isst Süssigkeiten und wirft hin und wieder sehnsüchtige Blicke auf den Mann in der Wohnung schräg gegenüber. Aber grundsätzlich möchte sie die eigene Wohnung so wenig wie möglich verlassen.

Ruby ist das pure Gegenteil. Spontan, frei und freizügig. Sie verkauft sich als Camgirl von der Wohnung aus, hat Partnerinnen und Partner, amüsiert sich über die Balkonblicke aus der Nachbarschaft auf ihre nackten Brüste und ist für ihre online-Kunden oft mehr Helpline als Sexobjekt. Die fürchterlichen Brandnarben auf ihrem Rücken werden nie erklärt; sie deklariert sie als den Atem der grossen Schlange, die sie sich hat darunter tätowieren lassen.
Elise schliesslich, die scheint ihren Weg längst gemacht zu haben. Sie ist als Schauspielerin erfolgreich, verheiratet mit dem Anwalt Paul, der seit ihrer abrupten Abreise nach Drehschluss dauernd besorgt aus Paris anruft. Aber Elises zeitweilige Atemnot, ihre Panik, ihre Ohnmachtsattacken, die erschliessen sich nach und nach. Und Schauspielerin Noémie Merlant wirft sich für Regisseurin Noémie Merlant mit einer schockierenden Hingabe in Rollenmomente, die nur auf einem von absolutem Vertrauen geprägten Filmset überhaupt denkbar sind.
Der massive WG-Hund der Frauen trägt den Namen «Brad le pit» und entpuppt sich im Verlauf des Films als die am wenigsten bedrohliche männliche Präsenz im Umfeld der Frauen, auch wenn er die unglückliche Tendenz aufweist, allfällige Leichen unerwünscht aufzuspüren.
Als der attraktive Nachbar von schräg gegenüber die drei Frauen schliesslich zu sich in die Wohnung einlädt und sich als ein von Antonionis Blow Up-Figur inspirierter Fotograf entpuppt, kippen Tonfall und Stimmung des Films mit zunehmend gesteigertem Tempo.

Noémie Merlant jagt ihr Publikum von Genre zu Genre, oft in der gleichen Sequenz mehrfach, von der Sommerkomödie in den Thriller, vom Horrorfilm in den Beziehungskrimi. Sie spielt mit metaphorischen Bildern und mit Kalauern, lässt Männer zu Geistern werden und Splatter-Effekte zu komischen Ausrufezeichen.
Sie feiert schwesterliche Freiheit und Verbundenheit und flicht so unerschrocken wie beharrlich sexuelle Gewalt, aufgezwungene Weiblichkeitsmuster und das Kippen männlicher Unsicherheit in bedrohliche Umkehrung ein. Denn im Zentrum dieses Films steht die sexuelle Gewalt gegen Frauen, offene und versteckte Vergewaltigung.
Weil Merlant diese Gewalt mit ihrem Film umkreist und sie von verschiedenen Seiten einbrechen lässt, entstehen die tonalen Brüche eigentlich von selbst. Die Brüche aufzufangen, mit all diesen Genrewechseln, das ist heilend und bezeichnend desorientierend zugleich.
Das Erstaunliche daran? Der Film funktioniert hervorragend. Was in der angedeuteten Nacherzählung wirkt wie ein im Thermomix zubereiteter Thesen-Eintopf, entpuppt sich als stringente, konsequente Erzählung, spannungs- und andeutungsreich.

Und der Grund dafür, dass all diese so unvereinbar scheinenden Elemente sich zu einem stabilen, packenden Ganzen verbinden, liegt wohl ebenfalls in der von diesem Frauen-Trio demonstrierten solidarischen Schwesterlichkeit. Nicht nur, dass die Schauspielerinnen von Merlant als Ko-Autorinnen angeführt werden, sondern auch die Zusammenarbeit mit Drehbuchautorin und Regisseurin Céline Sciamma verweisen auf komplizenhafte Kollaboration.
Sciamma habe ihr geholfen, den wilden Mix zu strukturieren, sagt Merlant. Und umgekehrt dürfte die explosive, oft von offensichtlicher Wut und eigener Erfahrung geprägte wilde Fantasie von Noémie Merlant dazu beigetragen haben, die (im Rückblick) fast zu clever zusammengebaute Metaphorik durch den emotionalen Dauer-Tremor und die tonalen Brüche nie erstarren zu lassen.
Les femmes au balcon ist effizient und subtil durchschlagendes Thesenkino in variabel komödiantischer Trash-Kostümierung, eine sommerliche Splitterbombe, welche ihr Zähneknirschen hinter fröhlich geschminkten Lippen lauern lässt.
Im Kino ab 26. Juni 2025
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