Die Unverpassbaren, Woche 21

Coeur' animal' von Séverine Cornamusaz

Erst diese fünf Filme sehen. Dann alle anderen.

  1. Coeur Animal von Séverine Cornamusaz. Starkes und beeindruckendes Filmdebut aus den Westschweizer Alpen. Mehr dazu gibt’s am Montag um 11 Uhr auf DRS2 in Reflexe oder in der nächsten Filmrolle.
  2. Chloe von Atom Egoyan. Egoyans eigenwilliger Nachbau des französischen Dramas Nathalie hat was. Und dazu noch Julianne Moore.
  3. David Wants to Fly von David Sieveking. Der Dokumtarfilmer als liebenswürdiger Naivling geht hartnäckig dem Guru Maharishi Mahesh Yogi und seinen Anhängern – darunter David Lynch – auf die Nerven. Witzig und hellsichtig.
  4. Guru – Bhagwan, his Secretary & his Bodyguard von Sabine Gisiger und Beat Häner. Wer nie zu einem Guru ging, weiss nach diesem Film, warum nicht. Und darüber hinaus, warum es andere taten. Ein gründlicher Blick, der fasziniert.
  5. Gainsbourg – vie héroïque von Joann Sfar. Das Biopic vom Comicmacher ist anders, frecher, fiktiver und gerade darum auch echter – und grundsätzlich vergnüglich.

Im Filmpodcast morgen gibts es mehr aus Cannes und zu Coeur animal.

Cannes 10: LA NOSTRA VITA by Daniele Luchetti

'La nostra vita' von Daniele Luchetti

Mit Mio fratello è figlio unico, einer selbstironischen Dramödie, war Luchetti 2007 in Un Certain Regard vertreten, mit dem Nanni-Moretti-Vehikel Il portaborse 1991 im Wettbewerb. La nostra vita verheiratet nun wieder das politisch eingefärbte Sozialdrama mit der Familienkomödie und geht dabei schön melodramatisch zu Werk. Ein junger Vorarbeiter verliert bei der Geburts des dritten Kindes seine Frau und betäubt seinen Schmerz dadurch, dass er seine ganze Energie in ein eigenes Baugeschäft lenkt. Zugleich trifft er auf den Sohn eines Mannes, dessen Unfalltod er auf der Baustelle vertuscht hat (was entfernt an La promesse der Dardenne-Brüder erinnert).

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Cannes 10: SHI – POETRY von Chang-dong Lee

Junghee Yun in 'Shi' von Changdong Lee

Lee Chang-dong war von 2002 bis 2005 Minister für Kultur und Tourismus in Südkorea. Vorher und danach hat er Filme gemacht. 2007 gewann Do-yeon Jeon (die wir hier eben in The Housemaid wieder gesehen haben) die Palme für die Beste Darstellerin in seinem Film Secret Sunhsine – Milyang. Und auch in Shi ist wieder die Hauptdarstellerin das stärkste Argument für den Film. Junghee Yun war ab den späten sechziger Jahren der koreanische Superstar schlechthin, bis sie einen Pianisten geheiratet und sich sechzehn Jahre aus dem Filmgeschäft zurückgezogen hat. Nun spielt sie Mija Yang, die mädchenhafte Grossmutter eines Teenagers, der in massive Schwierigkeiten gerät. Mijas Kampf um die Zukunft des Jungen und ihre gleichzeitigen Bemühungen, in einem Lyrikkurs die Kunst des Dichtens zu lernen, gehen ans Herz.

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Cannes 10: Schwimmende Repräsentationsräume

Film- und Landratte Sennhauser inspiziert die schwimmenden Salons im Hafen von Cannes.
Film- und Landratte Sennhauser bei den schwimmenden Salons

In dieser Stadt, wo während der 12 Tage des Filmfestivals noch das schäbigste Appartement für den Gegenwert einer Jahresmiete an irgendeine Filmproduktions- oder Distributionsfirma vermietet werden kann, wenn es bloss an oder in der Nähe der Croisette liegt, ist es für manche Repräsentationsoffiziere nicht nur exotischer, sondern auch billiger, eine der Luxusjachten im Hafen zu chartern und zum Festivalempfangsboot umzufunktionieren. So lädt ARTE Jahr für Jahr zur Party auf dem fest vertäuten Kahn (dieses Jahr ist es die Ineke II), Manxfilm von der Isle of Man hat natürlich auch ein passendes Boot und noch manch andere sind zu finden am Quai gleich hinter dem Palais des Festival. Ganz zu schweigen von den privaten Jachtbesitzern, welche es sich auch nicht nehmen lassen, hier vor Anker zu gehen. Ein paar Bilder nach dem Sprung:

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Cannes 10: SCHASTYE MOE by Sergei Loznitsa

SCHASTYE MOE by Sergei LOZNITSA

My Joy ist der englische Titel von Sergei Loznitsa Schastye Moe. Und damit ist das sprachlich die gleiche Figur wie Biutiful bei Iñárritu. Denn Joy, das Vergnügen, ist bei diesem Film des Ukrainers ausschliesslich auf der Seite des Publikums – so es den Magen und den Humor dafür hat. Die Geschichte eines jungen Lastwagenfahrers, der mit einer Ladung Mehl zu einer immer absurderen und gewaltvernagelteren Odyssee aufbricht, beginnt schon damit, dass das Publikum lebendig begraben wird. Das geht ganz einfach: Die erste Einstellung zeigt den schmatzenden Inhalt eines Zementmischers, dann wird ein Toter in einen Graben geschmissen und schliesslich schaufelt ein monströser Bagger Erde über die Kamera bis die Leinwand dunkel ist. Das ist ein Einstieg in den Orkus, der an David Lynchs Eindringen in das abgeschnittene Ohr in Blue Velvet erinnert. Auch sonst hat der Film etwas von Lynch, er ist enigmatisch und unterhaltsam wie Mulholland Drive, hat eine leicht von der Odyssee geprägte Erzählstruktur, mit einem Hauch von Cold Mountain (bloss viel, viel besser) und zugleich ein Echo von Oh Brother, where art thou?

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Cannes 10: inoffizielle Fotocalls

Wilson 01

Am Filmfestival von Canens ist fast alles ritualisiert. Auch die Mechanik der Starmaschine. Nach der Projektion des Films im grossen Kino wird das „talent“, also Regisseure und Schauspielerinnen, per Limousine hinter das Palais des Festival gefahren, eskortiert von Motorrädern der Polizei. Über eine abgesperrte Aussentreppe werden sie aufs Dach geführt, für die ersten französischen Fernsehinterviews und den offiziellen Fotocall mit den dafür akkreditierten Fotografen. Danach folgt einen Stock tiefer die offizielle Pressekonferenz. Nun gibt es aber Lücken im System, und eine davon ist der Drahtzaun vor der Haltestelle für die Starlimousinen. Da drängen sich dann um die designierten Stunden herum weitere Fotografen und knipsen die Stars, im aktuellen Fall Lambert Wilson (siehe vorherigen Blogeintrag) durch die Stäbe hindurch. Ein sekundäres Spektakel – dazu ein paar weitere Bilder nach dem Sprung.

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Cannes 10: DES HOMMES ET DES DIEUX von Xavier Beauvois

DES HOMMES ET DES DIEUX by Xavier BEAUVOIS

Manche Filme sind gemacht für die oekumenische Jury und für Cannes, und dieser Wettbewerbsbeitrag ganz besonders. Acht französische Mönche (verkörpert unter anderem von Lambert Wilson, links im Foto, und dem immer grossartigen Michael Lonsdale, siehe Foto am Ende des Textes) leben in den er Jahren friedlich in ihrem Atlas-Kloster in Nordafrika, in Freundschaft mit der muslimischen Dorfgemeinde. Mit den ersten islamistischen Anschlägen und Terroraktionen wird aber nicht nur der Glaube der Mönche arg geprüft, sie kommen auch moralisch in die Klemme. Die korrupte Regierung möchte das Kloster unter den Schutz der Armee stellen oder noch lieber die Mönche ausreisen sehen. Die Bevölkerung bittet darum, sie nicht im Stich zu lassen. Und die Terroristen wollen die Dienste des greisen Arztes im Kloster in Anspruch nehmen – was wiederum zu Drohungen der Armee führt.

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Cannes 10: COPIE CONFORME von Abbas Kiarostami

William Shimell und Juliette Binoche in 'Copie conforme' von Abbas Kiarostami
William Shimell und Juliette Binoche in 'Copie conforme' von Abbas Kiarostami

Kiarostami in der Toscana? Eine Paargeschichte mit Juliette Binoche als Galeristin und einem britischen Buchautor? Kunsttheorie und Beziehungsdiskussionen? Die ersten zehn Minuten setzt Kiarostami alles daran, die Vorurteile am Leben zu halten. Der Vortrag des Schriftstellers ist so pompös wie banal, der junge Sohn der Galeristin ist zuerst quengelig, dann altklug, und als der Schriftsteller die Galeristin dann in ihrem Laden besucht und sie ihn mit dem Auto auf einen Ausflug nach San Gimigniano mit nimmt, fliegen die Erwartungen schon sehr niedrig zwischen den Zypressen durch. Aber dann hält eine alte Wirtin der Frau einen kurzen Vortrag darüber, was wichtig sei an einer Ehe und was nicht. Und die Frau lässt die Alte im Glauben, der Schriftsteller sei ihr Gatte. Und der Schrifsteller spielt mit. Und der Film hebt ab. Plötzlich flammen die Dialoge auf, rinnen Binoche einzelne Tränen übers Gesicht, plötzlich gibt ein Wort das andere, und die Sätze beginnen zu leben, zu schmerzen.

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Cannes 10: BIUTIFUL von Alejandro González Iñárritu

Javier Bardem in 'Biutiful'

Oi. Hiob im Kino. Als die Coen-Brothers A Serious Man auf uns losliessen, war leicht zu verstehen, warum wir diesem Unglücksraben als Zuschauer beim Unglücken zuschauen wollten. Das war, wo nicht zynisch, so doch saukomisch. Meist. Und treffend auch. Aber nun hat uns Alejandro González Iñárritu mit Biutiful ein Rätsel aufgegeben. Mit beträchtlichem künstlerischem Aufwand (und bei ungerührter Betrachtung erfolgreich) hat er den bisher stärksten Film des Wettbewerbs gemacht – und den deprimierendsten. Der von Javier Bardem verkörperte Uxbal lebt in der dreckigen Unterwäsche von Barcelona, er hat eine manisch-depressive Ex-Frau und zwei Kinder, Prostata-Krebs mit malignen Metastasen im letzten Stadium, die Verantwortung für ein Strassenhändlernetz aus illegalen Afrikanern und schliesslich die Schuld am Tod von fünfundzwanzig Menschen aus China, die in einem Keller ersticken. Und er hat eine Gabe, die das alles noch schlimmer macht: Er kommuniziert mit Toten.

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Cannes 10: CLEVELAND VS. WALL STREET von Jean-Stéphane Bron

'Cleveland vs. Wallstreet' ©Christopher First
'Cleveland vs. Wallstreet' ©Christopher First

Der Westschweizer Filmemacher Jean-Stéphane Bron ist schweizweit bekannt geworden mit seinem Mais im Bundeshuus. Nun hat Bron Chancen auf eine internationale Karriere, denn sein Timing und sein Thema sind nahezu perfekt. Er hat zwei Jahre lang versucht, den Schweizer Banken dokumentarisch beizukommen, bis er entmutigt aufgab – und auf den Fall der Stadt Cleveland in Ohio stiess, welche beschlossen hatte, 21 Wall Street Banken im Sub-Prime-Mortgage-Debakel zu verklagen. Der Prozess wurden von den Banken mittels Verzögerungstaktik erfolgreich abgewehrt, aber Bron hat ihn mit den realen Protagonisten vor Ort inszeniert. Das Resultat ist eine faszinierende Lektion von Grund auf. Nach diesem Film weiss man nicht nur, wie die katastrophalen Geldinstrumente funktionierten und wer sie in Betrieb genommen hat, sondern auch, wie sie sich konkret ausgewirkt haben. Ich habe Bron nach der Premiere getroffen und für Echo der Zeit einen Beitrag gemacht, den es hier zu hören gibt.