READING LOLITA IN TEHRAN von Eran Riklis

Azar Nafisi (Golshifteh Farahani) © filmcoopi

Literarische Bestseller zu verfilmen ist ein tückisches Unterfangen. In der Regel sind es ja weder die sprachliche Brillanz noch die intellektuelle Tiefe, welche sich im Kino verkaufen, sondern die emotionale Wucht. Und dafür ist Eran Riklis Verfilmung von Azar Nafisis Roman «Reading Lolita in Tehran» ein Paradebeispiel. Die Emotionen sind da, die Wut, die Angst, die Hoffnung, gespiegelt in den Gesichtern der Darstellerinnen. Allen voran die stets mitreissende Golshifteh Farahani, die sich in diesem Film noch einmal selbst übertrifft.

Farahani spielt die iranischstämmige Literaturprofessorin, welche nach der islamischen Revolution von 1979 voller Hoffnung mit ihrem Ehemann aus den USA nach Teheran zurückkehrt, bloss um sehr bald ernüchtert die Unterdrückung der Frauen im allgemeinen und die Zensur der literarischen Studien im neuen Ajatollah-Regime zu erfahren. Sie gibt ihren Lehrstuhl auf und beginnt, mit ein paar ihrer engagiertesten Studentinnen in ihrem eigenen Wohnzimmer heimlich die verbotenen «dekadenten» englischsprachigen Klassiker zu lesen, angefangen mit Nabokovs «Lolita». „READING LOLITA IN TEHRAN von Eran Riklis“ weiterlesen

Die Unverpassbaren, Woche 26 – 2025

Sanda Codreau, Souheila Yacoub, Noémie Merlant © frenetic

Erst diese fünf Filme sehen, dann alle anderen:

  1. Les femmes au balcon von Noémie Merlant. Nicht nur die Hitze macht der Frauenwohngemeinschaft in Marseille zu schaffen. Eine eine elektrisierend hochgemixte feministische Sommerstreubombe.
  2. Les fantômes von Jonathan Millet. Exil-Syrer jagen Exil-Syrer. Als Thriller gebautes Psychogramm, fesselnd und verstörend.
  3. On Falling von Laura Carreira. Auroras Job als «Einsammlerin» in einem Versandwarenlager ist einsam, sinnlos, temporär – reine Gig-Economy. Carreiras Film ist das pure Gegenteil.
  4. Hôtel Silence von Léa Pool. Ein lebensmüder Kanadier findet in einem kriegsversehrten Land Menschen, Hoffnung und Freundschaft. Ein subtil paradoxer Glücklichmacher.
  5. Milchzähne von Sophia Bösch. Das Wolfskind aus dem Wald führt der jungen Skalde die tödliche Enge ihrer Dorfgemeinschaft vor Augen. Ein nahezu perfekter Erstlingsfilm mit ganz kleinen Zähnen.

MEXICO 86 von César Diaz

Maria (Bérénice Béjo) © xenix

Dass Frauen im bewaffneten Widerstand Beruf und Kinder noch viel weniger vereinbaren können als andere Mütter, darüber machen wir uns kaum Gedanken. Die revolutionären Untergrundorganisationen Südamerikas, etwa jene, welche gegen die Diktatur in Guatemala kämpften, die hatten dafür offenbar eine radikale Lösung: Die sogenannten «Bienenstöcke», revolutionäre Kinderheime in Cuba oder Nicaragua.

Für den guatemaltekisch-belgischen Regisseur César Diaz gehört die Erfahrung zu seiner eigenen Kindheit. Er ist bei seiner Grossmutter aufgewachsen, während seine Mutter mit der Guerilla im mexikanischen Exil den Kampf gegen die Militärdiktatur weiterführte. Hätte die Grossmutter nicht darauf bestanden, wäre auch Diaz in einem «Bienenstock» untergebracht worden.

Anders als mit seinem fast dokumentarisch nüchternen Durchbruchsfilm Nuestras madres von 2019 führt er sein Publikum mit Mexico 86 nun über genretreues Agentenkino an diese Mütter heran, die den allgemeinen Kampf gegen Ungerechtigkeit über die eigene Familie stellten. „MEXICO 86 von César Diaz“ weiterlesen

LES FEMMES AU BALCON von Noémie Merlant

Sanda Codreau, Noémie Merlant © frenetic

La canicule, die Hitze der Hundstage, liegt über Marseille, und das Leben der Frauen-WG von Ruby (Souheila Yacoub) und Nicole (Sanda Codreanu) findet hauptsächlich auf dem Balkon statt. Als dann auch noch Freundin Elise (Noémie Merlant) aus Paris dazustösst, im engen roten Kleid und mit Marilyn-Monroe-Look, japsend vor Atemnot, ist der Rahmen gesetzt für eine fröhliche Sommerkomödie. Dabei müsste das Publikum eigentlich gewarnt sein, denn die ersten Einstellungen des Films erinnerten nicht nur an Hitchcocks Rear Window, sondern zeigten auch fast beiläufig einen möglicherweise mörderischen Ehedisput auf dem Nebenbalkon.

Die Verweise auf andere Filme und Figuren kommen nicht von ungefähr, genauso wenig wie die blonde Perücke, welche Regisseurin Noémie Merlant in ihren ersten Szenen trägt. Elise ist Schauspielerin und hat eben in Paris in der Titelrolle einen Fernsehfilm über die Affäre von Marilyn Monroe mit Yves Montand während der Dreharbeiten zu Let’s Make Love abgedreht. Der Moment, in dem Elise die blonde Perücke schliesslich vom Kopf zieht, ist einer von etlichen überraschenden Kippunkten in der wilden, metaphorisch explosiven und stilistisch hypereklektischen Achterbahnfahrt von Les femmes au balcon. „LES FEMMES AU BALCON von Noémie Merlant“ weiterlesen

Die Unverpassbaren, Woche 25 – 2025

‚Les fantômes‘: Hamid (Adam Bessa) © cineworx

Erst diese fünf Filme sehen, dann alle anderen:

  1. Les fantômes von Jonathan Millet. Exil-Syrer jagen Exil-Syrer. Als Thriller gebautes Psychogramm, fesselnd und verstörend.
  2. On Falling von Laura Carreira. Auroras Job als «Einsammlerin» in einem Versandwarenlager ist einsam, sinnlos, temporär – reine Gig-Economy. Carreiras Film ist das pure Gegenteil.
  3. Hôtel Silence von Léa Pool. Ein lebensmüder Kanadier findet in einem kriegsversehrten Land Menschen, Hoffnung und Freundschaft. Ein subtil paradoxer Glücklichmacher.
  4. Milchzähne von Sophia Bösch. Das Wolfskind aus dem Wald führt der jungen Skalde die tödliche Enge ihrer Dorfgemeinschaft vor Augen. Ein nahezu perfekter Erstlingsfilm mit ganz kleinen Zähnen.
  5. Bergers von Sophie Deraspe. Schäferromantik, in der Realität gespiegelt. Eine Meta-Pastorale, die sich vor gar nichts zu fürchten scheint.

LES FANTÔMES von Jonathan Millet

Hamid (Adam Bessa) und Harfaz (Tawfeek Barhom) © cineworx

Auf den ersten Blick verbindet den palästinensischen Schauspieler Tawfeek Barhom (Boy from Heaven, 2022) wenig mit dem britischen Über-Mimen Sir Laurence Olivier. Und doch hat mich der raffinierte Polit-Spionage-Rache-Thriller Les fantômes immer wieder an John Schlesingers Marathon Man (1976) mit Dustin Hoffman und Laurence Olivier erinnert.

Zunächst natürlich, weil die beiden Filmfiguren, Tawfeek Barhoms Harfaz in Les fantômes und Laurence Oliviers Zahnarzt Christian Szell in Marathon Man, eine mögliche Vergangenheit als Folterer verbindet. Vor allem aber, weil die furchtbaren Schatten der Vergangenheit in beiden Filmen ihren eigenen Terror-Tenor ausbreiten. „LES FANTÔMES von Jonathan Millet“ weiterlesen

Die Unverpassbaren, Woche 24 – 2025

‚Hôtel Silence‘: Sébastien Ricard (Jean), Lorena Handschin (Ana) © filmcoopi

Erst diese fünf Filme sehen, dann alle anderen:

  1. On Falling von Laura Carreira. Auroras Job als «Einsammlerin» in einem Versandwarenlager ist einsam, sinnlos, temporär – reine Gig-Economy. Carreiras Film ist das pure Gegenteil.
  2. Hôtel Silence von Léa Pool. Ein lebensmüder Kanadier findet in einem kriegsversehrten Land Menschen, Hoffnung und Freundschaft. Ein subtil paradoxer Glücklichmacher.
  3. Milchzähne von Sophia Bösch. Das Wolfskind aus dem Wald führt der jungen Skalde die tödliche Enge ihrer Dorfgemeinschaft vor Augen. Ein nahezu perfekter Erstlingsfilm mit ganz kleinen Zähnen.
  4. Les papas von David Maye. Vier junge Väter setzen sich in diesem charmanten Schweizer Dokumentarfilm aktiv mit ihrer Rolle auseinander. Ana- und katalytisch.
  5. Bergers von Sophie Deraspe. Schäferromantik, in der Realität gespiegelt. Eine Meta-Pastorale, die sich vor gar nichts zu fürchten scheint.

MILCHZÄHNE von Sophia Bösch

Das Waldmädchen Meisis (Viola Hinz) © dschointventschr

Wolfskinder haben ganz kleine Zähne, die nie ausfallen. Erst wenn die Milchzähne ihrer Kinder ausfallen, können Eltern und Dorfbewohner darum sicher sein, dass ihr Nachwuchs nicht durch ein Wolfskind aus dem Wald ersetzt worden ist.

Die 19jährige Skalde ist die beste Spurenleserin und Jägerin der kleinen Dorfgemeinschaft. Wie alle anderen Jugendlichen trägt sie ihre Milchzähne als Kette um den Hals. Und das kleine Mädchen, das aus dem Wald gekommen ist, zu ihr und ihrer Mutter Edith, das müsste Skalde eigentlich töten. „MILCHZÄHNE von Sophia Bösch“ weiterlesen

DANS LA CUISINE DES NGUYEN von Stéphane Ly-Cuong

La reine des nems: Yvonne Nguyen (Clotilde Chevalier) © First Hand Films

«Kulturelle Aneignung» gehört zur DNA des Musicals, die Exotisierung der Realität ist letztlich eine subtile Form der Satire, Ironie der ideale Stoff für des Kaisers neue Kleider. Man denke bloss an Gilbert & Sullivans «The Mikado» als Vorläufer oder an Rogers & Hammersteins «South Pacific» als eine der Kronen des Konzepts.

Wohl auch darum hat sich der Franco-Vietnamese Stéphane Ly-Cuong schon von mehr als 25 Jahren als Musical-Kritiker und Schauspieler die Figur der Yvonne Nguyen ausgedacht, eine in Frankreich geborene Tochter vietnamesischer Eltern. Sie trägt all die Dilemmata der Einwandererkinder in sich, die kulturelle Schizophrenie, den Kampf gegen die Klischees und die Typisierung, und die zeitweilige Verlorenheit zwischen Abstammung und Geburtsland. „DANS LA CUISINE DES NGUYEN von Stéphane Ly-Cuong“ weiterlesen

HÔTEL SILENCE von Léa Pool

Lorena Handschin (Ana), Sacha Semi-Barthes (Adam), Sébastien Ricard (Jean), Jules Porier (Zoran) © filmcoopi

Nachdem er davon abgekommen ist, sich in seinem Haus in Kanada an einem eigens montierten Deckenhaken zu erhängen, reist Jean, mit besagtem Haken und Werkzeug im Gepäck, in ein bürgerkriegsversehrtes europäisches Land und mietet sich ein, in einem eben wieder eröffneten Hotel, bei Ana und ihrem jungen Cousin Zoran. In seinem Zimmer nutzt er das mitgebrachte Werkzeug dann allerdings erst mal, um den Schrank zu flicken und die rostgefüllten Wasserleitungen zu klären.

Während die verblüffte Ana versucht, Jean als Helfer für die vielen anstehenden Reparaturen im maroden Hotel zu gewinnen, klaut ihr kriegstraumatisierter, stummer kleiner Sohn Adam in einem Engelskostüm den Haken aus Jeans Tasche. Um sich, wie sich später zeigen wird, stilgerecht als Pirat kostümieren zu können.

Auch ohne die klare Symbolik von Adams beiläufig flatternden Engelsflügeln zeichnet sich ab, was diesen Film antreibt: Der lebensmüde Jean und seine kriegsversehrten Gastgeber führen sich gegenseitig ins Leben zurück. „HÔTEL SILENCE von Léa Pool“ weiterlesen