Filmpodcast Nr. 776: Tár, Aftersun, Berlinale

Frankie Corio und Paul Mescal in ‚Aftersun‘ von Charlotte Wells © outsidethebox

Kino im Kopf – mit Brigitte Häring. Heute in der Filmrolle: Einer der grossen Oscar-Favoriten, der Film Tár von Todd Field über eine fiktive Stardirigentin mit Cate Blanchett in der Hauptrolle – Musikredaktor Benjamin Herzog hat ihn gesehen. Von mir gibts einen Beitrag zum wunderbaren Spielfilmdebut Aftersun der Schottin Charlotte Wells. Und Michael Sennhauser hat in Berlin mit ZEIT-Redakteurin Katja Nicodemus und Filmjournalist Peter Claus über die diesjährige Berlinale diskutiert. Dazu wie immer noch das Tonspurrätsel und die Kurztipps.

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LIMBO von Ivan Sen

‚Limbo‘: Simon Baker © Bunya Productions

Ivan Sen, Sohn einer australischen indigenen Mutter und eines deutsch-ungarischen Vaters, ist bekannt geworden mit Mystery Road (2013), einem australischen Polizei-Western, in dem ein Detective den Mord an einem indigenen Teenager aufzuklären versucht.

Auf der Basis jenes Films und seines Nachfolgers entstand schliesslich eine ganze Mystery Road-Serie.

Limbo greift die Motive von damals wieder auf, der Film hat auch wieder eine Western-Stimmung. Aber es ist ein in nur fünfzehn Drehtagen in grossartigem Schwarzweiss gefilmter Designer-Film im besten Sinn des Wortes. „LIMBO von Ivan Sen“ weiterlesen

Die Unverpassbaren, Woche 08 – 2023

Cate Blanchett als Lydia Tár © Universal

Erst diese fünf Filme sehen, dann alle anderen:

  1. Tár von Todd Field. Mehr als bloss #MeToo mit der von Cate Blanchett verkörperten Star-Dirigentin, ein furioses, virtuoses, musikalisches Kino-Kunstwerk ohnegleichen.
  2. Aftersun von Charlotte Wells. Erinnerung an einen Tochter-Vater-Urlaub. In diesem liebevollen, lichtdurchfluteten, melancholischen und atmosphärisch dichten Debut sitzt jedes Bild, jede Geste, jedes Wort.
  3. La ligne von Ursula Meier. Margaret hat zugeschlagen, nun muss sie 100 Meter Abstand halten von ihrer Mutter. Mit raumgreifender Präzision schreibt Ursula Meier ihre filmische Familientopografie fort.
  4. Pamfir von Dmytro Sukholytkyy-Sobchuk. Ein symbolbeladener Schwarzhandel-Western aus den Karpaten – atmosphärisch aufgeladen durch die unheimlichen Strohkostüme einer Karnevalsfeier.
  5. Les enfants des autres von Rebecca Zlotowski. Die Teilzeit-Patchwork-Familie als Bindungs- und Beziehungsrisiko, betont und gezielt un-hysterisch und herzlich inszeniert mit Virginie Efira.

Im Filmpodcast morgen: Tár, Aftersun, Berlinale

ROTER HIMMEL von Christian Petzold

Silberner Bär Großer Preis der Jury –  73. Berlinale
Leon (Thomas Schubert), Nadja (Paula Beer), Felix (Langston Uibel) und Devid (Enno Trebs) © Piffl Medien

Jung bleiben mit Petzold. Das geht, obwohl er, wie wir auch, älter wird. Seine Filmfiguren bleiben jünger, egal, ein welcher Zeit sie sich gerade aufhalten.

Paula Beer auf dem Fahrrad am Waldrand, da weht schon noch ein Hauch von Petzolds Barbara von 2012 über die Leinwand. Die radelte aber noch in der DDR. Beer jetzt ganz gegenwärtig an der Ostsee.

Auch die Lage des Reetdachhauses mitten im Wald, nah am Meer, der heisse Sommer, ja selbst die unweit schwelenden Waldbrände, das alles erzeugt wieder diese Stimmung vorübergehender Zeitlosigkeit. „ROTER HIMMEL von Christian Petzold“ weiterlesen

LE GRAND CHARIOT von Philippe Garrel

Francine Bergé, Louis Garrel, Aurelién Recoing © Benjamin Baltimore / 2022 Rectangle Productions – Close Up Films – Arte France Cinéma – RTS Radio Télévision Suisse – Tournon Films

Philippe Garrel inszeniert seine drei Kinder in einem Film um eine Künstlerfamilie, mit einem antiromantischen Impetus, der gleich wieder umschlägt ins Lob der Kunst, die sich bewegt. 

Schausteller sind sie, Saltimbanques, Puppenspieler, der Vater (Aurélien Recoing) als Alter Ego des Regisseurs, seine Töchter Martha (Esther Garrel) und Léna (Léna Garrel) und ihr Bruder Louis (Louis Garrel). Zusammen mit der Grossmutter (Francine Bergé) und mit Hilfe von Louis‘ bestem Freund Pieter (Damien Mongin) halten sie das Puppentheater am Leben, das die Familie schon seit Jahren betreibt, auf Tour und vor Ort. „LE GRAND CHARIOT von Philippe Garrel“ weiterlesen

TÓTEM von Lila Avilés

Naíma Sentíes in ‚Tótem‘ © Limerencia

Dieser mexikanische Familien-Wirbelsturm ist der bisher intensivste Film dieser Berlinale. Gleich zu Beginn sperrt uns Lila Avilés ins Klo mit der kleinen Sol und ihrer Mutter. Die Kleine sitzt auf der Schüssel und kann nicht so recht, schliesslich pinkelt ihre Mutter kichernd ins Waschbecken neben dran, weil es eben dringend ist.

Die Komplizität der beiden wird noch verstärkt, als von draussen jemand an die Tür hämmert und ruft, das sei eine öffentliche Toilette. „TÓTEM von Lila Avilés“ weiterlesen

DISCO BOY von Giacomo Abbruzzese

Franz Rogowski ist Aleksei in ‚Disco Boy‘ © Films Grand Huit

Dieser eigenartige Film ist eine Art Apocalypse Now Light mit einer Spur Migranten-Mirakel. Magischer Exotismus aus dem Niger-Delta und ein klandestiner Migrant aus Belarus kulminieren in einer Pariser Disco.

Warum wir in der ersten Einstellung des Filmes ein Knäuel schlafender schwarzer Soldatenkörper in einer offenen Dschungelhütte sehen, erschliesst sich erst viel später. „DISCO BOY von Giacomo Abbruzzese“ weiterlesen

INGEBORG BACHMANN – REISE IN DIE WÜSTE von Margarethe von Trotta

Vicky Krieps als Ingeborg Bachmann und Ronald Zehrfeld als Max Frisch in Paris © Wolfgang Ennenbach

Als im letzten Dezember der Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch publiziert wurde, gab es Stimmen, die meinten, die gesamte Beziehung der beiden müsste nun neu betrachtet werden, Max Frisch sei damit rehabilitiert und jedenfalls nicht das schuldige Monster, zu dem ihn ein Teil der Literaturgeschichte gemacht habe.

Und schnell kam auch der Verdacht auf, Margarethe von Trottas Film, lange vor der Publikation der Briefe konzipiert und abgedreht, wäre möglicherweise schon vor seiner Premiere überholt. „INGEBORG BACHMANN – REISE IN DIE WÜSTE von Margarethe von Trotta“ weiterlesen

PAST LIVES von Celine Song

Greta Lee, Teo Yoo © Jon Pack

Wir sehen einen Asiaten, eine Asiatin und einen weissen Amerikaner an einer Bar in New York. Aus dem Off hören wir die Stimmen eines Paares, das die drei offenbar beobachtet und sich ausmalt, in welcher Beziehung die drei zueinander stehen.

Der Witz dieser Eröffnungsszene besteht unter anderem darin, dass die drei sich genau die gleiche Frage stellen. „PAST LIVES von Celine Song“ weiterlesen

MANODROME von John Trengove

Jesse Eisenberg als Ralphie © Wyatt Garfield

Filme, die direkt den Zeitgeist treffen, wie ein elektrischer Schock, sind rar. Martin Scorseses Taxi Driver war so ein Phänomen. David Finchers Verfilmung von Fight Club verschaffte dann dem Zeitgeistroman von Chuck Palahniuk mit Verzögerung eine konsumierbar breite Hochglanzoberfläche.

Ähnlich David Cronenberg, mit seinem Versuch, J. G. Ballards Roman «Crash» Jahrzehnte nach dem Erscheinen einen adäquaten filmischen Ausdruck zu geben. Stanley Kubrick hingegen geriet mit seiner Adaption von Clockwork Orange in England in des Teufels Küche, weil das Buch wohl seiner Zeit etwas voraus war, der Film dann aber genau die richtige (oder, für seine Auswertung, die falsche) Zeit vorfand. „MANODROME von John Trengove“ weiterlesen