Gilles Jacob gibt sich die Ehre

Der nicht mehr ganz junge Mann rechts im Bild ist der langjährige Festivalleiter und nun auch langjährige Festivalpräsident von Cannes, Gilles Jacob. Radio France gab heute einen kleinen Empfang für die ausländischen Radiogäste (schäbige kleine Häppchen und ein gelangweiltes Herumstehen, aber wenn man schon mal persönlich eingeladen wird…) und der Granseigneur des Festivals tauchte persönlich kurz auf, um ein paar der wichtigeren Radiostimmen der Grande Nation seiner Wertschätzung zu versichern. Nett, ist es nicht?

David Fincher's Zodiac

 (Jake Gyllenhaal, Chloë Sevigny in "Zodiac")

Wer von diesem Film jene magendrehende Faszinaton erwartet, welche Fincher mit «Se7en» oder «Fightclub» provozierte, kommt eigentlich nur beim Eröffnungsmord des titelgebenden kalifornischen Serienkillers ganz auf seine Kosten. Der Rest des 156 Minuten langen Thrillers ist Geschichte einer Obsession und ein Zeitgemälde, das von den 60er in die 80er Jahre führt. Dabei arbeitet Fincher mit seiner gewohnten Präzision und Liebe zum Detail. Die Stadt San Francisco ist eben so Darsteller wie Jake Gyllenhaal und der immer wieder faszinierend magnetische Robert Downey jr. Der Film fühlt sich mit seiner barock ausschweifenden Faktenhuberei manchmal an, wie eine lange Episode von "24" – ohne die Atemlosigkeit, die Brutalität und das Spekulative der Fernsehserie. Und für Kinofreundinnen sind …

… etliche Leckerbissen eingebaut, so auch eine «Dirty Harry»-Vorführung aus welcher der Polizist, der das Vorbild war, angewidert rausläuft. denn tatsächlich geht "Scorpio", der Killer, den  Clint Eastwood damals erledigte, auf den «Zodiac» zurück. Aber wirklich erschreckend ist der Umstand, dass dieser Zodiac-Killer einer der ersten Terroristen war, der konsequent über die Medien spielte, egal, worin seine Motivation lag. Die Frage taucht ganz klar auf, ob Medienleute den Terror nicht überhaupt erst ermöglichen, indem sie die Öffentlichkeit schaffen. Finchers Film passt gut in den Wettbewerb in Cannes, das ist hochstehendes, geduldiges akribisches Handwerk, das seine Traditionen nie verleugnet.

4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage

 

Was für ein Kontrast! Nach dem wunderschönen, seelenpinselnden Edelkitsch von Wong Kar Wais «My Blueberry Nights» ist der zweite Wettbewerbsfilm vom Rumänen Cristian Mungiu ein ziemlicher Schock: Unglaublich gut, unglaublich düster, unglaublich Alltagshorror.

Es ist der erste Film einer geplanten Reihe mit dem ironischen Titel «Die goldenen Zeiten», welche Geschichten aus der Zeit des kommunistischen Rumänien erzählt.

«4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage» dauert bereits die Schwangerschaft der jungen Studentin Gabita. Der Film spielt in den 80er Jahren, in Rumänien war der Abort ab 1966 verboten, illegale Schwangerschaftsabbrüche bekamen den Charakter einer Auflehnung gegen den Staat.

Aber die junge Frau fürchtet vor allem um ihren Studienplatz und bittet ihre Zimmerkollegin aus dem Studentenwohnheim um Hilfe.

Der Mann, der den Abbruch heimlich in einem Hotelzimmer durchführen soll, nutzt die Notlage der beiden jungen Frauen schamlos aus, der Freund der Freundin hat keine Ahnung und die Bilder sind so kalt wie das Land und seine Gesetze und seine Parteidiktatur.

Mungiu filmt ähnlich wie die Dardenne-Brüder («Rosetta», «L’enfant») mit einem dokumentarisch wirkenden Realismus und absoluter Kontrolle. Der Film wird, ohne je vom Alltagsgeschehen abzuweichen, zum Horrortrip, ganz einfach, weil man(n) gar nicht anders kann, als sich mit den beiden Frauen zu identifizieren. Kein Vergnügen per se, aber ein meisterlich gemachter Film von einem Mann, der das erst zum zweiten Mal in Angriff genommen hat.

Pressekonferenz (2)

(v.l. Henri Béhar, Moderation, Norah Jones, Wong Kar Wai, Jude Law)

Ein Musterbeispiel an freundlicher Causerie war diese erste PK des Festivals. Alle waren zu Spässchen aufgelegt und entspannt. Verblüffend allerdings dann doch die Erkenntnis: Weder Norah Jones, die Hauptdarstellerin, noch Jude Law, der Hauptdarsteller, haben den Film bisher gesehen, das Publikum im Saal war ihnen also einen Schritt voraus. Das hängt damit zusammen, dass Wong Kar Wai immer notorisch spät mit der Postproduktion fertig wird. Seinen grandiosen «2046» musste das Festival 2004 im Programm verschieben, weil die Kopien nicht rechtzeitig in Cannes eingetroffen waren. Und es geht die Sage, dass die erste Rolle schon durch die Projektoren lief, während die anderen noch ummontiert wurden. Ob das stimmt oder nicht: Wong Kar Wai liebt seinen Ruf und erklärte, er habe darum darauf bestanden, dieses Jahr den Eröffnungsfilm zu liefern. Da er letztes Jahr die Jury präsidierte, klingt das ganz plausibel. Norah Jones ist übrigens ein echtes Naturtalent, sowohl als Schauspielerin, wie auch als PK-Teilnehmerin. Nüchtern und ohne falsche Bescheidenheit hat sie erklärt, warum das Spass gemacht habe, als Sängerin ohne schauspielerische Ambitionen an diesem Film mitzuwirken. Unter anderem darum, weil sie gar keine Vergleichsmöglichkeiten gehabt hätte und…

…erst nervös wurde, als man ihr mitteilte, wer denn neben ihr noch mitspielen würde: Rachel Weisz, Natalie Portman, Jude Law und David Strathairn. Die Besetzung der Frauenrollen ist übrigens sehr augenfällig motiviert und zeigt, wie sehr Wong Kar Wai vom Bild ausgeht: Weisz und Portman könnten Schwestern sein von Norah Jones. Alle drei haben die gleichen dunklen Augenbrauen, den gleichen dunklen Blick, Weisz und Jones gar fast die gleiche Haarpracht.

Pressekonferenz mit Wong Kar Wai, Norah Jones und Jude Law (1)

Normalerweise ist die erste Pressekonferenz des Festivals jene der Jury, auf die sich alle stürzen, weil es sonst noch nichts zu berichten gibt. Da wir, das arbeitende Berichterstattungsvolk, den Eröffnungsfilm der Abendgala aber schon am Morgen um zehn zu sehen bekamen (natürlich ohne Zirkus, Pinguin und Spiessrutenlaufen zwischen den Fotografen), drängelten wir uns auch wie gewohnt schon eine halbe Stunde vor der offiziellen Pressekonferenz im grossen Saal. Ganz hinten auf der Tribüne die Fernsehkameras, im Saal auf den Stühlen und am Boden das Medienfussvolk und vorne am Podium all die Fanboys und Fangirls unter den Filmjournalisten, welche ihre Digicams und Mobiltelefone mit Norah Jones und Jude Law füllen wollten. Und dazwischen…

…natürlich die Fotoprofis von Reuters und Konsorten, mit Teleobjektiven, die wie Cruise Missiles aussehen. Sogar brav auf dem Stuhl sitzend bekam ich problemlos mit, wenn Miss Jones zu einem Lächeln ansetzte, oder Jude Law gestikulierte: Die Fotoapparate der Profis beginnen dann ihr Klick-Stakkato, alle gleichzeitig: Auch Fotografen sind in Cannes nur Pawlowsche Hunde, wie wir alle.

Eröffnungsfilm:

 

Was für ein erfreulicher Festivalstart! Der erste englischsprachige Film des Hongkong-Meisters Wong Kar Wai vereinigt fast alles, was wir an seinen Filmen lieben: Einstellungen, die aussehen wie gemalt und zerrupft, melancholische Stimmung voller Liebessehnsucht und Trauer, aber immer in den schönsten Farben, beschädigte Menschen, die so komplett wirken wie die Schauspieler, die sie verkörpern… kurz: Die ganze wundervolle Künstlichkeit, die Nostalgie, die Stilsicherheit, das Jazz-Blues-Sixties-Feeling, das er mit «In the Mood for Love» perfektioniert hat. Wenn nun die junge Sängerin Norah Jones, die tatsächlich so singt, wie Wong Kar Wai filmt – wunderschön, fast zu schön, ein wenig geleckt fürs Publikum, aber mit einem Unterton, der mehr verspricht – wenn nun diese Nora Jones als Elizabeth oder Lizzie mit gebrochenem Herzen und Liebeskummer ins New Yorker Café des dort gestrandeten britischen Marathonläufers Jude Law stöckelt, sich ihren Kummer ohne viele Worte abnehmen lässt und dann auf eine lange Roadmovie-Schleife durch die USA auffbricht…

…dann ist das sozusagen die traumhafte Synthese von «In the Mood for Love» mit Wim Wenders’ «Paris Texas». Dass auch noch der gleiche Ry Cooder die Musik zum Film beisteuert, unterstützt das Gefühl natürlich. Dieser unendlich lange Kuss, den der gestrandete Brite seiner am Tresen eingeschlafenen Kundin auf die Lippen drückt, das schläfrige Lächeln, zu dem sich die vollen Lippen der schönen Norah Jones veziehen: Das alles ist Kitsch vom Feinsten. Aber weil Wong Kar Wai immer abbricht, wenn es am schönsten ist, die Musik, das Bild, die Szene, wird der Kitsch nie kitschig. Der Regisseur setzt mich bloss auf die Rutsche und wenn ich dann im Kitsch lande, dann liegt es daran, dass ich weniger Disziplin habe als er, keine Zurückhaltung als Zuschauer, keine Abwehrkräfte seiner Magie gegenüber.

«My Blueberry Nights» ist bestimmt der westlichste, formelhafteste Film, den Wong Kar Wai bisher gemacht hat. Da aber alle seine Filme all diese formelhaften Elemente immer wieder einsetzen, wie Collagen aus Fotobüchern, ist das auch ein weiterer absolut eigenständiger Wong Kar Wai-Film, ein Vergnügen, ein schöner Traum.

Hoffentlich gibt’s noch mehr davon in den nächsten Tagen!

Aufbau in den Katakomben

Kaum zu glauben, dass sich hier unten, im Tiefgeschoss des Palais de Festival, morgen schon Tausende von Film-Ein- und -Verkäufern drängeln werden. Noch sieht das alles sehr provisorisch aus, der Nadelfilzteppich ist noch mit Schutzplastik überzogen, ebenso die Restaurantstühle unter der Glaskuppel, welche diesem Reich der Dunkelheit wenigstens einen Hauch von Tageslicht vermittelt. Aber die Dame auf dem Plakat leidet schon ganz dekorativ … und viel versprechend. Oder nicht?

Cannes hat mich wieder

(Nizza im Anflug)

Nicht dass das Fischerstädtchen ausgerechnet auf mich gewartet hätte. Höchstens mein Hotelier, der dieses Jahr für meine Besenkammer noch einmal 20 Euro mehr will pro Nacht, also 130 Euro, Vorauskasse im März, Blockbuchung für 12 Nächte, auch wenn man nicht alle brauchen würde. Aber schliesslich finanzieren sich etliche Cannois ihre Wohnung fürs ganze Jahr, indem sie sie in diesen zwölf Tagen an verzweifelte Filmleute vermieten und selber vorübergehend zur Tante aufs Land ziehen…

Nein, Cannes hat nicht auf mich gewartet. Ich bin einer von 3000 Journalisten aus der ganzen Welt und einer von rund 10000 Festivalgängern überhaupt. Aber es ist doch jedes Jahr eine Art nach Hause kommen, nur schon die Anflugkurve des Jets über der Bucht von Nizza, und dann die Busfahrt durch die völlig verstopften Strassen nach Cannes, der erste Café im "Crillon". Morgen gehts los: 0620 live Telefon-Gespräch mit DRS1. 0810 live Telefon-Gespräch mit DRS3. 0900 Gesprächsaufzeichnung bei Radio France im Keller des Palais du Festival, für DRS2aktuell. Den Beitrag für Rendezvous habe ich gestern schon produziert … und am Donnerstag wollen sie dann alle nix. Weil Auffahrt ist. Macht aber …

… auch nix, hier gibts keine Pause. Oder doch: Heute Abend. Ich gehe Fische essen mit den Kollegen vom "Bund" und von der "Sonntagszeitung". Und gemeinsam freuen wir uns auf den Eröffnungsfilm "My Blueberry Nights" von Wong Kar Wai, mit Nora Jones, Natalie Portman, Jude Law … ein US-Roadmovie vom Hongkong-Star. Wir sehen den schon morgen um 10 Uhr, dafür haben wir dann nichts verloren unter den geladenen Gästen der Eröffnungsgala. Privilegien haben eben ihren Preis …