Man stelle sich das allererste James-Bond-Kinoabenteuer Dr. No als Gletscher vor. Nein, das ist das falsche Bild, schliesslich spielt Albert Serras auf französisch Tourment sur les îles genannter Film auf Tahiti, in französisch Polynesien, in tropischer Hitze.
Nachdem sie 2017 für Jeune femme mit Laetitia Dosch die Goldene Kamera von Cannes gewonnen hatte, standen ihr für ihren neuen Film plötzlich deutlich mehr Mittel zur Verfügung. Und die hat sie eingesetzt für einen weiteren bewundernswerten und bewundernden Film über eine Frau, welche die Freiheit im Kopf hat, «dans la tête», zumindest dann, wenn die äusseren Umstände nicht viel Spielraum bieten.
Rose kommt in den 1980er Jahren mit ihren zwei jüngeren Söhnen von der Elfenbeinküste nach Paris. Die drei wohnen zunächst in einem besseren Wandschrank bei Freunden, Rose setzt alles daran, bei ihren Söhnen Disziplin und Ehrgeiz in der Schule zu fördern: «Il faut reussir, quand même». „UN PETIT FRÈRE von Leonor Serraille“ weiterlesen
In einem Cannes-Wettbewerb der mit den grossen Dramen kleiner Menschen nicht gerade geizt, ist Kelly Reichardts Showing Up ein Paradiesvogel. Ein ganz alltäglicher, wie die Taube, welche Lizzies Katze mitten in der Nacht im Badezimmer zu rupfen beginnt.
Lizzie (Michelle Williams) ist Künstlerin. Sie macht kleine, expressive Keramikfiguren und sie arbeitet im Büro einer Kunstschule. Wenn sie Stress hat, oder schlechte Laune, was ziemlich oft vorkommt, lässt sie das an ihrer eher stoischen Nachbarin, Freundin, Vermieterin und Kunstkonkurrentin Jo (Hong Chau) aus. Vorzugsweise mit Gemecker, weil sie seit Wochen kein Heisswasser mehr zum Duschen hat. „SHOWING UP von Kelly Reichardt“ weiterlesen
Der Belgier Lukas Dhont hat in Cannes 2018 für sein Geschlechtsumwandlungsdrama Girl mehrere Preise gewonnen und danach eine weltweite Fangemeinde. Es gab aber auch Diskussionen um den Film, vor allem, als er dann ins Kino kam.
Die Perspektive sei einseitig, manipulativ oder gar transfeindlich, waren Vorwürfe, die tatsächlich von überraschender Seite kamen. Close ist nun thematisch weniger exotisch, aber wahrscheinlich nicht weniger kontrovers. „CLOSE von Lukas Dhont“ weiterlesen
Im Prinzip hat der japanische Meister des Familienfilms auch die Geschichte von Broker schon mehrfach in Varianten erzählt. Aber so berührend und direkt schafft es kaum jemand im zeitgenössischen Kino, die Wahlfamilie als das eigentliche Glück der Menschheit zu variieren.
Claire Denis nimmt Denis Johnsons Roman «The Stars at Noon» von 1986 zum Anlass, ein zeitloses, fiebrig-erotisches Tropen-Abenteuer zu inszenieren. Dabei nimmt sie die Perspektive der Erzählerin des Buches, der Amerikanerin Trish (Margaret Qualley) ein.
Der Roman spielt in Nicaragua, 1984, während der Revolution. Aber Claire Denis siedelt ihren Film in einer diffusen Gegenwart an. Die Figuren haben Mobiltelefone, in einem Hotel hält der Concierge ein Schild hoch „WIFI out of order“, und sowohl Gebäude wie auch die Autos sind gegenwärtig.
Wie der Roman verrät auch der Film verrät nie genau, wer diese Trish nun wirklich ist. Ist sie eine Journalistin, wie sie behauptet? Eine Aktivistin? Eine nordamerikanische Drifter-Hure, wie der Engländer Daniel (Joe Alwyn) einmal meint? „STARS AT NOON von Claire Denis“ weiterlesen
Mit 165 Minuten Länge, das sind zwei und dreiviertel Stunden, ist Leila und ihre Brüder (Baradaran-e Leila) aus dem Iran der längste und geschwätzigste Abgesang auf das Patriarchat, den ich je gesehen habe. Aber selbst wenn einem danach die Ohren klingeln: Der Film wirkt nach.
Die erste Einstellung zeigt einen alten Mann, der zusammengesunken in seinem Sessel raucht. Es ist der Patriarch der Familie, Heshmat (Saeed Poursamimi). Gegen Ende des Films sehen wir ihn wieder im gleichen Sessel, zusammengesunken, die brennende Zigarette zwischen den Fingern, inmitten seiner Enkelinnen. Aber nun ist er tot. „LEILA’S BROTHERS von Saeed Roustayi“ weiterlesen
Der eindrückliche italienische Starschauspieler Pierfrancesco Favino kommt von der Mafia nicht mehr los. Da haben wir ihn noch bestens in der Erinnerung als «Verräter» Tommaso Buscetta in Marco Bellocchios Il traditore von 2019. Und schon kehrt wieder zurück nach Neapel.
In der ersten Szene in einem ägyptischen Flugzeug irritiert er noch etwas, weil er mit der Stewardess arabisch spricht. Aber schon bald nach der Landung wird klar, dass hier ein Sohn der Stadt zurückkehrt. „NOSTALGIA von Mario Martone“ weiterlesen
Ali Abbasi kam 1981 im Iran zur Welt. Als Student zog er nach Stockholm und studierte dort Architektur, danach absolvierte er die Filmschule in Dänemark. Mit seinem Erstling Shelley wurde er an die Berlinale eingeladen und sein fantastischer Troll-Film Gräns (Border) brachte ihm 2018 den Preis von „Un certain regard“ in Cannes ein. Und eine weltweite Fangemeinde.
Das Spiel mit dem Genre-Kino führt er weiter, auch wenn er grundsätzlich keine Lust bekundet, einem bestimmten Stil oder Filmtypus treu zu bleiben.
Die Geschichte des iranischen Prostituiertenmörders Saeed Hanaei, der nach der Jahrtausendwende in der Pilgerstadt Mashhad sechzehn Prostituierte umbrachte, auf einem persönlichen religiösen Feldzug, sollte nach dem Erfolg von Gräns ein kleiner, persönlicher Film werden, eine vorübergehende Rückkehr ins Geburtsland auch. „HOLY SPIDER von Ali Abbasi“ weiterlesen
Die Dardenne-Brüder gehören zu den wenigen, welche die Goldene Palme von Cannes zweimal gewonnen haben, dazu kommt eine ganze weitere Reihe von Auszeichnungen an diesem Festival allein. Mit ihrem zwölften Langspielfilm könnten sie theoretisch die dritte Palme holen. Die Dringlichkeit und die thematische Relevanz hat das Drama durchaus.
Dabei ist die Crux der beiden ausgerechnet ihr perfektes Handwerk, die formale Eleganz und die dokumentarische Nähe zu ihren Figuren, an die man sich über die Jahre einfach gewöhnt hat. „TORI ET LOKITA von Jean-Pierre et Luc Dardenne“ weiterlesen