GIRL GANG von Susanne Regina Meures

Leonie beim Influencen © frenetic

Die Berliner Influencerin Leonie hat allein auf Instagram 1.6 Millionen Follower. Der Dokumentarfilm von Susanne Regina Meures hat «Leoobalys» auf ihrem Weg dahin vier Jahre lang begleitet.

Mit einer aufgeregten Menge sehr junger Mädchen hinter einer Absperrung vor einem Kaufhaus beginnt der Film. Es sind die Wiener Fans von Leonie, wie wir später erfahren. Acht-, Neun-, Zwölfjährige, die ihre vierzehn Jahre alte Online-Freundin einmal «in echt» sehen wollen.

Die Aufregung, die Tränen, das auf der Tonspur nur gedämpft wahrnehmbare Kreischen, das alles erinnert an die alten, schwarzweissen Aufnahmen von vorwiegend sehr jungen, weiblichen Beatles-Fans der 1960er Jahre.

Ein Vergleich, mit dem ich mich als alternder Kinogänger natürlich hoffnungslos in jenem Zuschauer-Segment verorte, das zum Phänomen «Influencer» vor allem Vorurteile und Kopfschütteln bereithält.

Die Dokumentarfilmerin Susanne Regina Meures hat sich ein paar dramaturgische Kunstgriffe überlegt, um mich genau da abzuholen – und gleichzeitig auch das zu erwartende Publikum aus dem unüberschaubaren Segment jener 1.6 Millionen «Follower», welche Leonie täglich mit Einblicken in ihren Mädchen-Alltag bedient.

Die Musik, welche da bald am Anfang einsetzt, die ist stimmbetont und feierlich, eine Art Kirchenchor, Elfenklänge aus abgehobenen Sphären. Und dann folgt auf der Tonspur eine Stimme mit einem Märchenanfang, die von einem Mädchen erzählt, dass sich in seinem «schwarzen Spiegel» spiegelt, fasziniert und faszinierend.

Der schwarze Spiegel ist, klar, das Mobiltelefon. Damit teilt die 14jährige Leonie die Freuden und Entdeckungen ihres täglichen Lebens mit immer mehr Freundinnen auf der halben Welt. Neue Schuhe, Klamotten, Mittel gegen Pickel, TikTok-Tricks und kleine Freudentänze.

Susanne Meures ist mit ihrer Kamera dabei, sie zeigt, wie Leonies Eltern das Management ihrer Tochter übernehmen, wie die Kleinfamilie mit Hund und Katze und Einfamilienhaus zur Firma wird, wie der Vater gezielt und geschickt immer grössere Firmenaufträge hereinholt.

Leonie ist ein Selfmade-Profi, sie beherrscht die Apps, die Plattformen, die Filter und den richtigen Ton. Die Eltern sorgen für geregelte Abläufe, Disziplin und die nötige Unterstützung.

Zwei Dinge macht der Film sehr schnell sehr klar: Was Leonie da macht, ist knallharte Arbeit. Mit der Vorstellung des «perfekten Lebens», das ihre Fans zu sehen bekommen, hat der Alltag wenig zu tun.

Wenn Leonie lacht, lacht sie in die Telefonkamera hinter dem Ringlicht.

Ist das Licht aus, ist sie gestresst, wirft dem mahnenden Vater oder der auf Zeitpläne drängenden Mutter vor, anstrengend zu sein und erweist sich zunehmend als pubertärer Teenager zwischen Disziplin und Einsamkeit.

Parallel dazu montiert der Film das Leben von Leonies Fan Nummer eins, Melanie, die mit ihren Fan-Accounts nicht nur Leonies online-Leben mitlebt, sondern auch über ihre versammelten Mit-Fans zu ihrer Reichweite beiträgt.

Ist Meures’ Kamera Leonie und ihrer Familie gegenüber betont neutral, wird Melanie als Proto-Fan von Anfang an mit einer gewissen Hysterie und in Dunkelheit inszeniert. Bis sie sich nach Jahren von ihrem Stellvertreterleben emanzipiert und eine richtige beste Freundin findet.

Das ist der eine gezielt manipulative Kunstgriff dieses Dokumentarfilms. Der andere besteht darin, dass Leonies Eltern an einigen Stellen im Off-Ton über ihre eigenen Ängste und Träume reden. Aber nie miteinander und nie mit der Tochter.

Es gibt keine dokumentarische Neutralität. Wer filmt, steuert Blicke und Vorstellungen. Daran erinnert «Girl Gang» auf jeder Ebene. Auch mit dem letzten Satz im Film, der dem Märchen (und dem Mädchen) ein gutes Ende wünscht.

Susanne Regina Meures © frenetic

Meures kam 1977 in Deutschland zur Welt. Sie studierte Fotografie und Kunstgeschichte am Courtauld Institute of Art in London, danach Film an der Zürcher Hochschule der Künste. Meures ist in der Regel ihre eigene Kamerafrau.

Ihr erster langer Dokumentarfilm war Raving Iran (2016), die Geschichte zweier iranischer Underground-Techno-DJs die über ihre internationale Karriere die Flucht versuchen.

Daran schloss 2020 Saudi Runaway an, in dem eine Frau in Saudi-Arabien ihre Flucht aus dem Land vorbereitet und sich dabei auch selbst filmt. Auf Wunsch der Protagonistin wurde der Film nach diversen erfolgreichen Festivalaufführungen schliesslich vom Produzenten vor der Kinoauswertung und weiteren Festivaleinladungen zurückgezogen.

Damit ist Girl Gang nun Meures’ dritter Film über Selbstbestimmtheit und komplexe Lebensumstände junger Menschen.

Während es aber bei den ersten beiden Filmen weitgehend unmöglich war, die in repressiven Ländern heimlich gefilmten Vorgänge unabhängig zu überprüfen, liegt beim aktuellen Film so ziemlich alles offen.

DIE GOLDENEN JAHRE von Barbara Kulcsar

Esther Gemsch und Stefan Kurt © filmcoopi

Für das frischpensionierte Ehepaar Alice und Peter entpuppt sich der Start in Die goldenen Jahre als unerwartet dramatische Knacknuss. Petra Volpe (Die göttliche Ordnung) hat das Drehbuch geschrieben, Barbara Kulcsar (Nebelgrind) inszeniert Esther Gemsch, Stefan Kurt und Ueli Jaeggi in dieser Dramödie, die am ZFF ihre Premiere feierte.

«Unser Sohn ist ein Gigolo. Und unsere Tochter trinkt zu viel».

Das bemerkt der frisch pensionierte Peter (Stefan Kurt) gegenüber seiner Frau Alice (Esther Gemsch) am Schluss der grossen Feier mit Familie und Freunden.

Und schiebt grinsend nach: «Nümm üsses Problem!» „DIE GOLDENEN JAHRE von Barbara Kulcsar“ weiterlesen

THE COW WHO SUNG A SONG INTO THE FUTURE von Francisca Alegría

Magdalena (Mía Maestro) steigt Jahre nach ihrem Tod aus dem Fluss © Match Factory

«Magischer Realismus» in einem Film aus Chile: Damit kann man Tote wecken. Im Falle von Magdalena (Mía Maestro) passiert das inmitten einer lokalen Umweltkatastrophe.

Die Abwässer einer Papierfabrik haben die Fische im Fluss verenden lassen, und aus dem Wasser steigt mit letzter Kraft eine Frau im tropfenden Motorradanzug, barfuss, und zieht sich den Helm vom Kopf. „THE COW WHO SUNG A SONG INTO THE FUTURE von Francisca Alegría“ weiterlesen

LES CINQ DIABLES von Léa Mysius

Joanne (Adèle Exarchopoulos) © Le pacte

Einen schöneren, eindringlicheren, magischeren und zugleich realistischen Film hätte man dem NIFFF nicht zur Eröffnung wünschen können. Direkt von der Quinzaine in Cannes nach Neuchâtel, ein Film, der aus unerfindlichen Gründen erst in Frankreich und Spanien einen Verleih gefunden hat.

Nachtrag: Und in der Schweiz, bei der filmcoopi in Zürich.

Wer genau die fünf Teufel des Titels sind, erschliesst sich nicht auf Anhieb. Aber das ist das Wunder dieses Films von Léa Mysius: Sie erzählt von Gefühlen und Vorgängen, Ängsten und Sehnsüchten, die wir begreifen, ohne sie verstehen zu müssen. „LES CINQ DIABLES von Léa Mysius“ weiterlesen

FÜR IMMER SONNTAG von Steven Vit

Rudy Vit hat Sonntag ohne Ende © Filmbringer

Von den drei Schweizer «Vaterfilmen» im Programm der diesjährigen Visions du réel ist das der direkteste, derjenige, der die geweckten Erwartungen am einfachsten umsetzt und sie dann doch deutlich übertrifft.

Rudy Vit hat 43 Jahre für die gleiche Schweizer Firma gearbeitet, immer auf Geschäftsreise, oft in Asien. Nun steht die letzte dieser Reisen an, vor seiner Pensionierung. „FÜR IMMER SONNTAG von Steven Vit“ weiterlesen

LE FILM DE MON PÈRE von Jules Guarneri

Le père in ‚Le film de mon père‘ © Intermezzo Films

Allein aus der Schweiz sind in diesem Jahr mindestens drei explizite «Vaterfilme» im Programm der Visions du réel. Der ungewöhnlichste ist auf jeden Fall der von Jules Guarneri.

Denn, wie der Titel es schon postuliert: Das ist zuerst einmal nicht ein Dokumentarfilm über den Vater, sondern ein Film des Vaters. „LE FILM DE MON PÈRE von Jules Guarneri“ weiterlesen

FAREWELL PARADISE von Sonja Wyss

Abflug von den Bahamas ‚Farewell Paradise‘ von Sonja Wyss © Basalt Film

Die Vertreibung aus dem Paradies war wohl eher eine Flucht. So genau erinnert sich keine der vier Schwestern daran, warum sie sich nach den wunderbaren Kindheitsjahren auf den Bahamas plötzlich im Flugzeug in die Schweiz wiederfanden.

Schon gar nicht Sonja Wyss, die als brüllendes Kleinkind im Flieger ihrer mit dem Transport beauftragten, auch erst zwölf Jahre alten Schwester das Leben noch schwerer machte. „FAREWELL PARADISE von Sonja Wyss“ weiterlesen

Locarno 19: MAGARI von Ginevra Elkann (Piazza Grande, Eröffnungsfilm)

‚Magari‘ von Ginevra Elkann © Xenix

Drei Geschwister werden von ihrer eben wieder schwangeren, geschiedenen Mutter in Paris zu ihrem Vater nach Italien geschickt für zwei Wochen. Für die achtjährige Alma, die als Erzählerin fungiert, ist das ein Schritt in die richtige Richtung. Schliesslich träumt sie immer noch davon, dass Mutter und Vater, die sie nie zusammen erlebt hat, wieder zusammenkommen könnten.

Ihr beiden älteren Brüder, der unter Diabetes leidende Rotschopf Jean und der 14jährige Älteste, Sebastiano, haben weniger Illusionen. Sie haben ihren Vater als selbstabsorbierten, nicht ganz zuverlässigen Künstler in gemischter Erinnerung. „Locarno 19: MAGARI von Ginevra Elkann (Piazza Grande, Eröffnungsfilm)“ weiterlesen

WOLKENBRUCH
von Michael Steiner

Joel Basman und Noémie Schmidt © dcm

Die seltsame Dominanz der «jiddische Mame» über ihre jüdischen Söhne, ob orthodox oder gemässigt, ist ein heiss geliebtes literarisches und filmisches Klischee.

Thomas Meyers Roman «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse» von 2012 hat dem Komplex wenig Neues beigefügt, aber das Buch wurde zum fröhlichen Bestseller. Und nun gibt es die Verfilmung dazu, kurz und knackig mit Wolkenbruch betitelt und mit Joel Basman in der zentralen Rolle. Heute hat der Film von Michael Steiner seine Premiere am Zürich Film Festival. „WOLKENBRUCH
von Michael Steiner“
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Cannes 18: SHOPLIFTERS (Manbiki kazoku) Hirokazu Kore-Eda (Wettbewerb)

Die Shibatas mit der kleinen Juri © Gaga Int.

Es ist offensichtlich, dass hier ein eingespieltes Team am Werk ist, wenn in der ersten Szene des Films Vater Osamu mit Sohn Shota im Supermarkt auf Einklautour geht: Beobachten, signalisieren, ein kleines Fingerritual von Shota und hopp ist eine weitere Packung Nudeln im Rucksack verschwunden.

Auf dem Heimweg stossen sie auf einem tiefliegenden Balkon wieder auf das kleine Mädchen, das Osamu schon mehrfach in der Kälte hat frieren sehen. Er beschliesst, sie zum aufwärmen mitzunehmen und sie folgt dankbar. Auch wenn die winzige Wohnung mit fünf Menschen völlig überfüllt wirkt Nobuyo ihrem Mann erklärt, das sei den kein Obdachlosenheim hier… „Cannes 18: SHOPLIFTERS (Manbiki kazoku) Hirokazu Kore-Eda (Wettbewerb)“ weiterlesen