Markus Schleinzer kommt aus der Haneke-Schule, daran lässt dieser Film keinen Zweifel. Kühl, distanziert, methodisch, pedantisch und präzise, wie die Titelfigur, handelt der Film seine Geschichte ab: Die letzten Wochen eines Mannes mit dem Zehnjährigen, den er in seinem Keller gefangen hält. Das sei keine verklausulierte Natascha-Kampusch-Geschichte, insistiert der Regisseur, und damit hat er bestimmt recht. Aber es ist ein Film aus Österreich, die Geschichte eines Mannes und eines im Keller des Mannes gefangenen Kindes. Dabei bleibt dem durchschnittlich aufmerksamen Zuschauer lange verborgen, welcher der beiden den Namen Michael trägt. Und wenn es dann klar wird, sind wir schon so weit, dass wir den Mann als Menschen erkannt haben, widerwillig, zwangsläufig.
Basterds zerstören die deutsche Sprache
… zumindest wenn man nach der Website des Schweizer Tages-Anzeigers geht, auf der heute obiger Zwischentitel in einer kleinen Zusammenfassung des österreichisch-deutschen Streits um die Rechte für die Anmeldung von Hanekes Das weisse Band für den Fremdsprachenoscar zu finden war.
Cannes 09: Das weisse Band

Michael Haneke, der Österreicher, ist längst auch ein Franzose hier in Cannes. Spätestens seit seinen französischen Filmen wie Code inconnue oder Caché mit Juliette Binoche, ist er hier in Cannes jeweils auch angetreten à defendre la France, wie die Franzosen das gerne sehen.
Mit Das Weisse Band ist er allerdings zurück in der unheimlichen Heimat. Nicht gerade Österreich, mehr das protestantische Norddeutschland, dazu kurz vor dem ersten Weltkrieg, in einem Dorf, das eine Welt ist.
Aber was sich da abspielt, unter der dünnen Oberfläche des Alltags, das ist so mörderisch und niederträchtig, dass man sich trotzdem im österreichischen Kino wähnt.
Im Dorf, auf das der einstige Dorflehrer als Erzähler zurückblickt, gibt es vier Autoritäten: Den Herrn Baron, den Herrn Pfarrer, den Herrn Doktor und eben den Herrn Lehrer.
Dem Herrn Doktor spannt jemand ein dünnes Drahtseil über den Weg, so dass er mit dem Pferd unglücklich stürzt und für lange Zeit ins Krankenhaus muss. Später verunfallt eine Frau tödlich, ein Junge wird misshandelt, eine Scheune brennt ab: Die Fälle häufen sich und der Herr Baron ruft nach dem Gottesdienst zu Wachsamkeit und Denunziation der Schuldigen auf.
Während der Film aus dem Leben aller Dorfbewohner erzählt, von strengen Vätern, verzweifelten Müttern, einem verliebten Lehrer und schliesslich dem Herrn Doktor, der sich langsam die Sympathie des Publikums verscherzt, mit der unglaublich geringschätzenden Art, die er seiner Praxishilfe und Ersatzhausfrau angedeihen lässt, stellt sich der Lehrer langsam neue Fragen.
Und die Kinder des Dorfes sind wirklich die Kinder des Dorfes, und sie werden es bleiben, denn nicht nur die Kirche bleibt im Dorf.

Das Weisse Band ist in leicht sepiagetöntem Schwarzweiss gefilmt, mit protestantisch strengen Bildern in einer protestantisch strengen Landschaft. Die Dorfkirche ist eine jener Gottesburgen, wie man sie so sonst nur noch in Dänemark antrifft, und Fremde gibt es keine im Dorf, abgesehen von zwei Kreispolizisten, die aber auch unverrichteter Dinge wieder abziehen.
Wer jetzt eine Art Knochenmann erwartet, liegt allerdings völlig daneben. Das ist ein Haneke-Film, wenn auch mit einer neuen (oder alten?) aufdringlichen Zurückhaltung gefilmt, die mitunter an Hanekes Landsmann Ulrich Seidl erinnert.
Allerdings sind die einzelnen Szenen hier ungleich kontrollierter, strenger und auch hinterhältiger gestaltet als bei Seidl. Und die beiden sprachlichen Ebenen, jene der Figuren und die des Erzählers, hetzen sich mitunter gegenseitig, auch wenn der Film unglaublich ruhig bleibt, angesichts der Ungeheuerlichkeiten, die er erzählt.
Ich bin mir noch nicht ganz klar darüber, ob das nun einfach ein beeindruckend kontrollierter Film ist, oder ein ganz grosses Meisterwerk.
Nachtrag 24. Mai: Die Kritiker-Jury von Fipresci hat sich für Meisterwerk entschieden und lässt den diesjährigen Cannes-Preis an Haneke gehen.
