Welche Schlange hättens denn gerne?

 

Anstehen und warten gehört zum Standardprogramm in Cannes. Niemand ist eine Insel, wir sind viele. Und wo viele das gleiche wollen, haben immer ein paar wenige das Nachsehen. In der Regel jene, die später kommen und ganz hinten stehen. Oder jene, die zwar ganz vorne stehen, aber einen nicht-prioritären Badge haben, einen für die Wochen- oder gar Monatspresse. Radio ist nicht nur täglich, sondern sozusagen immer. Für die anderen gilt: Das Leben ist nicht gerecht, und Cannes ist voll von Leben.

Neue Spinner: Free Hugs

 

Stell Dir vor, Du beeilst Dich ziemlich atemlos, drängst Dich durch die Menge der Touristen und Schaulustigen, um noch rechtzeitig ins Kino zu kommen. Und da stehen sie, mitten im Weg, diese Wahnsinnigen mit ihren T-Shirts, welche "etreintes offertes" anbieten, oder auch "free hugs", auf Deutsch: Gratis-Umarmungen. Spürst Du auch die brüderliche Liebe in Dir aufsteigen? Kommt Dir ein Lächeln auf die Lippen? Vergisst Du die Zeit und den Film und das Kino und die Arbeit. Eben. Spinner.

La foule attend les stars

Das sind die Standardbilder aus Cannes, die Menge der Stargazer auf der einen Seite der Strasse und das aufgebretzelte Fussvolk auf der hiesigen, die Männer im Pinguin, die Frauen, in was immer sie wollen, nur Schuhe sind obligatorisch (da kommt dann immer die Geschichte von der Palmengewinnerin Jane Campion, welche barfuss auf die Treppe kam und von den Gorillas angeblich nicht reingelassen wurde). Warum ich die schon wieder bringe, die Bilder? Weil es zu den wenigen echten Privilegien von uns Medienleuten gehört, da a) nicht rein zu müssen und b) wir den Blick auf die Menge von unserer ureigensten Medienterrasse im Festivalpalais geniessen, sogar auf den roten Teppich hinüber. Da ist allerdings fotografieren verboten. Sonst würden nämlich die Profifotografen von den Amateuren vom Markt gefegt.

Locarno-Geburtstagskuchen

 

Nicht nur Cannes feiert heuer die 60. Ausgabe, auch das Filmfestival Locarno wird 60 Jahre alt dieses Jahr. Und um das schon mal vorab zu feiern, hat Locarno in Cannes an die Plage des Palmes geladen heute und Marco Solari (Präsident) sowie Frédéric Maire (Leiter) haben gemeinsam die Geburtstagstorte (Himbeer, ziemlich lecker!) angeschnitten. Richtig gefeiert wird dann im August in Locarno. Natürlich. www.pardo.ch

Die Kritiker

 

Als Mitorganisator der kleinen Festivalsektion der Kritikerwoche am Filmfestival von Locarno beneide ich immer die Kollegen des viel grösseren Vorbildes der "Semaine de la critique" hier in Cannes. Nicht zuletzt um ihre witzigen Plakate. Das schönste gabs vor ein paar Jahren: Ein Kinosaal voller lachender Strichmännchen und mitten drin das Kritikermännchen mit rotem Kopf und saurer Miene. Aber auch das diesjährige Plakat mit dem geohrfeigten Filmkritiker ist nicht schlecht, oder?

Radiokeller

 

Hier noch ein Nachtrag zum gestrigen Thema Arbeitsplatz: In diesen Kellerverschlägen sind die Kabinen, die Radio France uns ausländischen Radios zur Verfügung stellt. Während wir nur hin und wieder da hinunter steigen, sitzen die Techniker und Verwalter von Radio France immer da unter Tag, ohne Sonne, ohne Filme. Ich frage mich immer wieder, ob die dahin strafversetzt werden. Habe mich aber nie getraut, sie direkt zu fragen, dafür sind sie alle viel zu freundlich.

Arbeitsplatzqualität

 

Nicht alle haben hier in Cannes die gleichen Privilegien, das wissen wir schon lange. Unsere Radiokabinen sind im dunklen Keller, während die Filmpromotoren der Isle of Man gleich eine ganze Motorjacht gechartert haben, um ihre Klientel zu empfangen. Nicht schlecht, oder? Dank ihrem Steuersystem haben die Manx-Men auch eine fast schon florierende Filmproduktion auf ihrer Insel… dafür sitzen die TV-Kollegen vom ORF (und in der Regel auch die von SF) hinter dem Palais zwischen den Laderampen in ihren Produktionsfahrzeugen. Wenns warm ist, kann immerhin im Camping-Stil geschnitten werden:

 

Gilles Jacob gibt sich die Ehre

Der nicht mehr ganz junge Mann rechts im Bild ist der langjährige Festivalleiter und nun auch langjährige Festivalpräsident von Cannes, Gilles Jacob. Radio France gab heute einen kleinen Empfang für die ausländischen Radiogäste (schäbige kleine Häppchen und ein gelangweiltes Herumstehen, aber wenn man schon mal persönlich eingeladen wird…) und der Granseigneur des Festivals tauchte persönlich kurz auf, um ein paar der wichtigeren Radiostimmen der Grande Nation seiner Wertschätzung zu versichern. Nett, ist es nicht?

Pressekonferenz (2)

(v.l. Henri Béhar, Moderation, Norah Jones, Wong Kar Wai, Jude Law)

Ein Musterbeispiel an freundlicher Causerie war diese erste PK des Festivals. Alle waren zu Spässchen aufgelegt und entspannt. Verblüffend allerdings dann doch die Erkenntnis: Weder Norah Jones, die Hauptdarstellerin, noch Jude Law, der Hauptdarsteller, haben den Film bisher gesehen, das Publikum im Saal war ihnen also einen Schritt voraus. Das hängt damit zusammen, dass Wong Kar Wai immer notorisch spät mit der Postproduktion fertig wird. Seinen grandiosen «2046» musste das Festival 2004 im Programm verschieben, weil die Kopien nicht rechtzeitig in Cannes eingetroffen waren. Und es geht die Sage, dass die erste Rolle schon durch die Projektoren lief, während die anderen noch ummontiert wurden. Ob das stimmt oder nicht: Wong Kar Wai liebt seinen Ruf und erklärte, er habe darum darauf bestanden, dieses Jahr den Eröffnungsfilm zu liefern. Da er letztes Jahr die Jury präsidierte, klingt das ganz plausibel. Norah Jones ist übrigens ein echtes Naturtalent, sowohl als Schauspielerin, wie auch als PK-Teilnehmerin. Nüchtern und ohne falsche Bescheidenheit hat sie erklärt, warum das Spass gemacht habe, als Sängerin ohne schauspielerische Ambitionen an diesem Film mitzuwirken. Unter anderem darum, weil sie gar keine Vergleichsmöglichkeiten gehabt hätte und…

…erst nervös wurde, als man ihr mitteilte, wer denn neben ihr noch mitspielen würde: Rachel Weisz, Natalie Portman, Jude Law und David Strathairn. Die Besetzung der Frauenrollen ist übrigens sehr augenfällig motiviert und zeigt, wie sehr Wong Kar Wai vom Bild ausgeht: Weisz und Portman könnten Schwestern sein von Norah Jones. Alle drei haben die gleichen dunklen Augenbrauen, den gleichen dunklen Blick, Weisz und Jones gar fast die gleiche Haarpracht.

Pressekonferenz mit Wong Kar Wai, Norah Jones und Jude Law (1)

Normalerweise ist die erste Pressekonferenz des Festivals jene der Jury, auf die sich alle stürzen, weil es sonst noch nichts zu berichten gibt. Da wir, das arbeitende Berichterstattungsvolk, den Eröffnungsfilm der Abendgala aber schon am Morgen um zehn zu sehen bekamen (natürlich ohne Zirkus, Pinguin und Spiessrutenlaufen zwischen den Fotografen), drängelten wir uns auch wie gewohnt schon eine halbe Stunde vor der offiziellen Pressekonferenz im grossen Saal. Ganz hinten auf der Tribüne die Fernsehkameras, im Saal auf den Stühlen und am Boden das Medienfussvolk und vorne am Podium all die Fanboys und Fangirls unter den Filmjournalisten, welche ihre Digicams und Mobiltelefone mit Norah Jones und Jude Law füllen wollten. Und dazwischen…

…natürlich die Fotoprofis von Reuters und Konsorten, mit Teleobjektiven, die wie Cruise Missiles aussehen. Sogar brav auf dem Stuhl sitzend bekam ich problemlos mit, wenn Miss Jones zu einem Lächeln ansetzte, oder Jude Law gestikulierte: Die Fotoapparate der Profis beginnen dann ihr Klick-Stakkato, alle gleichzeitig: Auch Fotografen sind in Cannes nur Pawlowsche Hunde, wie wir alle.