Duisburg 11: CARTE BLANCHE von Heidi Specogna

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Erstaunlich, dass dieser Film in Locarno nicht im Rahmen der Kritikerwoche gezeigt wurde – vielleicht lag das vor allem daran, dass Heidi Specogna schon im Jahr davor mit Das Schiff des Torjägers im Programm war. Carte blanche hat auf jeden Fall alles, was Specognas sorgfältige Arbeiten auszeichnet: Ein genauer Blick, hartnäckige Recherche, filmische eher als journalistische Aufbereitung und ein Thema, das alle etwas angeht: Das Verfahren des Internationalen Weltgerichtshofs gegen Jean-Pierre Bemba, den Mann, der seine Truppen im Jahr 2002 aus dem Kongo in die zentralafrikanische Republik schickte und sie dort plündern, morden und systematisch vergewaltigen liess. „Duisburg 11: CARTE BLANCHE von Heidi Specogna“ weiterlesen

Duisburg 11: AUGUST von Mieko Azuma

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Mieko Azuma wurde 1977 in Kyoto geboren, ab 2001 hat sie an der HFF in München Dokumentarfilm und Fersehjournalismus studiert. August ist ein Konzeptfilm mit einer schweren Prämisse: Er stellt das freiwillige und das unfreiwillige Vergessen in den Mittelpunkt, gebündelt im Hinblick auf die jeweils im August stattfindenden Gedenkfeiern in Hiroshima. Und natürlich kann kein Film mehr dieses Thema streifen, ohne sich in irgend einer Weise auf Alain Resnais‘ Hiroshima mon amour von 1959 zu beziehen. Den Bezug stellt denn auch die Protagonistin von Azumas Dokuspielfilm her, die von einer Schauspielerin verkörperte Deutsche, die in Hiroshima nach Erinnerungen sucht. Sie fragt ihren japanischen Übersetzer, mit Blick auf ein Hotel, ob er denn den Film nicht kenne. Und er kennt ihn natürlich nicht. „Duisburg 11: AUGUST von Mieko Azuma“ weiterlesen

Duisburg 11: DIE GROSSE PASSION von Jörg Adolph

Die große Passion

Es gibt viel zu viele Dinge, die wir einfach abnicken. Oberammergauer Passionsspiele? Ja eben. Kruzifix! Weit gefehlt: Passion wird durch Kleinigkeiten entfacht. Beim Dokumentarfilmer Jörg Adolph, der vor zwei Jahren mit Lost Town in Duisburg war, hat ein Satz des designierten Oberammergauer Spielleiters Christian Stückl gereicht, um das Interesse des Filmemachers herauszufordern: Er wolle einen neuen Jesus inszenieren, nicht den traditionellen, „der kam auf die Bühne, als hätte er einen Korken im Hintern, auf dem Ich-bin-der-Messias steht“. Und mit dem gebürtigen Oberammergauer Stückl hatte Adolph auch schon den Helden für seine Passion. Einen Helden, der alles mögliche zu haben scheint, aber ganz sicher keinen Zapfen im Arsch. „Duisburg 11: DIE GROSSE PASSION von Jörg Adolph“ weiterlesen

Duisburg 11: MONDO LUX von Elfi Mikesch

Werner Schroeter in 'Mondo Lux' von Elfi Mikesch
Werner Schroeter in 'Mondo Lux' von Elfi Mikesch

Da sind wir also wieder, in dieser seltsamen, kühl-freundlichen Stadt im Ruhrpott, am Rhein, in dieser Stadt, in der einen die Autos unaufgefordert Duzen und die meisten Leute anderes zu tun haben, als Dokumentarfilme zu schauen.

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Werner Schroeter, dem der Eröffnungsfilm galt, ist unter anderem in Bielefeld aufgewachsen, hat in Mannheim ein bisschen Psychologie studiert, und schliesslich ist er letztes Jahr in Kassel gestorben. Ob er zum doch oft nicht gerade undogmatischen Dokumentarfilmvolk nach Duisburg gekommen wäre, darf bezweifelt werden – seine Filme sind in der Regel in andere Dimensionen vorgestossen. „Duisburg 11: MONDO LUX von Elfi Mikesch“ weiterlesen

Duisburger Protokult

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Morgen beginnt wieder mein Lieblingsfilmfestival, die Herbstsonate gegen das Verblöden, das Novemberlied der Vielfalt, die Duisburger Filmwoche. Es ist die 35. Ausgabe der Dokumentarfilmwoche, und zum Jubiläum haben sie das Kernstück ihrer Geschichte zugänglich gemacht, die legendären Diskussionsprotokolle. In Duisburg gibt es nämlich nicht nur ein Filmprogramm, sondern stets nach dem Film auch gleich die Plenardiskussion. Und die wird einerseits moderiert, andererseits protokolliert. Und weil es da nicht einfach um Stenogramme einer Gerichtsverhandlung geht, sondern stets um persönlich gefärbte Einschätzungen der öffentlichen Reaktion auf die Filme, und der Filmemacher auf die (relative) Öffentlichkeit, lesen sich diese Protokolle noch (oder erst recht) Jahre danach als Zeitgeistdokumente mit Borsten. Unter der sinnigen Webadresse protokult.de sind sie säuberlich erschlossen, alle Protokolle seit 1980, als pdf (weil in der Anfangszeit noch kein Laptop im Saal stand), aber indiziert. „Duisburger Protokult“ weiterlesen

Kein Mensch ist illegal?

Am 13. August kam es zum Schluss des Filmfestivals von Locarno zu einem zunächst fast unbemerkten Eklat. Paulo Branco, Produzent und Jurypräsident, liess sich an der Palmarès-Pressekonferenz über den von seiner Jury übergangenen, aber zum Beispiel von der oekumenischen Jury ausgezeichneten Dokumentarfilm Vol spécial von Fernand Mélgar aus. Er bezeichnete Mélgars Dokumentarfilm über ein Westschweizer Ausschaffungslager für abgewiesesene Asylbewerber als „faschistisch“, weil der Filmemacher Wert darauf legte, das Lagerpersonal nicht zu denunzieren. Im ideologisch fixierten Weltbild des Portugiesen Branco bedeutet eine neutrale filmische Haltung automatisch Kollaboration mit dem Feind (mehr dazu hier in der Zeit). Dabei signalisiert Mélgars Film, wie schon sein Vorgänger La forteresse, die Rückkehr des politischen Dokumentarfilms in der Schweiz. Dass Mélgar, selber Einwanderersohn, bei seinen Filmen auf Parolenausgabe verzichtet, hat nicht wenig zu ihrer Verbreitung und angeregten Diskussion beigetragen. Damit hat Melgar gleichzeitig den Boden bereitet für andere Dokumentarfilmer, auch für solche, die weiter gehen, wie zum Beispiel Simon Labhart und Tina Bopp. „Kein Mensch ist illegal?“ weiterlesen

Locarno 11: VOL SPÉCIAL von Fernand Melgar

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Dokumentarfilme im Wettbewerb sind oft eine besondere Knacknuss, auch, wenn sie sich eigentlich, genau wie die Spielfilme, durchaus an der Umsetzung ihrer Intention messen lassen. Der Lausanner Fernand Melgar hat 2008 der Schweiz mit La forteresse einen Spiegel vorgehalten und hier in locarno den Goldenen Leoparden in der Reihe Cineasti di presente gewonnen. Das war ein Dokumentarfilm über eine Asylbewerber-Internierungsstation, ein überaus sauber und fair gemachter Film über Hoffnungen, gescheiterte vor allem, aber auch ein paar erfüllte. Und gerade darum erschütternd, weil er uns das nahe brachte, was wir eigentlich alle wussten.

Vol spéciale ist nun eigentlich nichts weiter als die konsequente Fortführung der Dokumentation. Im Zentrum steht diesmal ein Ausschaffungsgefängnis für abgewiesene Asylbewerber. Jener Ort mithin, wo die Träume definitiv zu Ende sind und nur noch Trotz, Verzweiflung oder Resignation möglich.

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SFT 11: Migros-Preis für Simon Baumann

Gerd Folkers, Peter Liechti, Urs Fitze und Hedy Graber ©sennhauser

Vor einem Jahr stellte Hedy Graber vom Migros-Kulturprozent hier in Solothurn den neuen Dokumentarfilm-Wettbewerb vor, der Filme von der Projektentwicklung bis auf die Leinwand begleiten soll. Heute wurde mit Simon Baumann der erste Sieger gekürt, dessen Projekt nun in die Produktion gehen soll. Wenn alles klappt, könnte der fertige Film 2012 am Dokumentarfilmfestival in Nyon uraufgeführt werden. Gleichzeitig gab Hedy Graber das Thema für den nächsten wiederum zweistufigen Wettbewerb bekannt: Freiheit – eine Herausforderung. Projekte können ab sofort und bis 16. Mai 2011 eingegeben werden.

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Nyon 10: RED SHIRLEY – ein Abend mit Lou Reed

'Red Shirley' von Lou Reed

Er ist tatsächlich gekommen, der Rockstar mit seinem Erstlingsfilm. Lou Reed ist trotz Aschewolke und Flugverboten nach Nyon gefahren, im Zug aus London, um heute Abend seinen ersten (und nach seiner Aussage auch letzten) Dokumentarfilm vorzustellen: Red Shirley, ein 28 Minuten langes Porträt seiner mittlerweile 101 Jahre alten Cousine. Es müsste nicht sein letzter sein, Red Shirley ist nicht nur ein berührendes Portrait einer alten Jüdin, die mit 19 Jahren ganz alleine aus Polen nach Kanada emigriert ist, und von dort nach nur sechs Monaten weiter nach New York, sondern auch ein (von Ralph Gibson) ansprechend gefilmtes, sehr dicht geschnittenes und vertontes (da kommt Lou Reeds eigene Expertise ins Spiel) rundes Werk. Die in einzelnen Momentaufnahmen aus ihren Erzählungen evozierte Sicht auf das Leben einer als oppositionelle Gewerkschafterin, also als „rote“, gegen die korrupte Union kämpfende, unerschrockene Frau, die unter anderem auch am Million Man March gegen die Segregation nach Washington dabei war, fügt sich zu einem ansprechenden kurzen Film, der keineswegs abfällt unter den übrigen in Nyon gezeigten Werken.

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Nyon 10: GIALLO A MILANO – Made in Chinatown von Sergio Basso

'Giallo a milano'

Integration macht Spass. Nicht unbedingt im realen Leben und wahrscheinlich noch viel weniger in Italien. Aber dieser Dokumentarfilm zum Leben und Denken der Chinesen in Europas grösstem Chinatown, dem von Mailand, der ist ein Vergnügen. Ein kluges, witziges, charmantes, einnehmendes Plädoyer, ein Film, der seinen Schalk schon im Titel trägt. Der „giallo“, das ist der Krimi, der Schundroman, Pulp Fiction in Italien, abgeleitet vom gelben Umschlag einer einst extrem populären billigen Krimireihe eines italienischen Verlagshauses. Wörtlich heisst Giallo a Milano natürlich „gelb in Mailand“, aber auch Krimi in Mailand. Und wie einen Krimi hat der Sinologe und Dokumentarfilmer Sergio Basso seinen Film strukturiert. 15 Elemente brauche ein guter Thriller verkündet der Film am Anfang, und dekliniert die dann durch, vom „jungen Verräter“ bis zur „singenden Puppe“ oder der Verfolgungsjagd.

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