Nyon 10: BEYOND THIS PLACE von Kaleo La Belle

'Beyond this place' von Kaleo La Belle

Die Zeit für die Aufarbeitung der Gurus ist definitiv gekommen. Der junge, in der Schweiz lebende Amerikaner Kaleo La Belle hat mit Beyond this Place gestern Abend eben den dritten Film zum Thema an diesem Festival geliefert – und den berührendsten. La Belle hat seine frühe Kindheit als Sohn eines amerikanischen Proto-Hippie-Paares auf Maui erlebt. Bald aber ist sein Vater zu dessen sterbender Mutter in die USA zurückgekehrt, und schliesslich ist auch La Belles Mutter mit dem Sohn zu ihren Eltern zurück gereist – ausgerechnet ins kalte Detroit. Siebzehn Jahre nach seiner letzten Begegnung mit dem Vater versucht der Sohn nun eine Annäherung an ihn, diesen „Hippie-General ohne Truppe“, diesen Extremindividualisten, der dem Sohn auf den Vorwurf, er hätte seine Verantwortung als Vater nicht wahrgenommen, grinsend erklärt, jedes Kind suche sich seiner Eltern selber aus, das sei Karma. Der Vater, der seit seiner Erleuchtung nicht mehr Gordon La Belle heisst, sondern Cloud Rock, liebt vor allem drei Dinge: Sich selber, seine Drogen und das Fahrradfahren. Und da versucht der Sohn einzuhängen, er schlägt einen ausführlichen Fahrradtrip zum Spirit Lake und dem Mount Saint Helen vor – und der Vater steigt darauf ein.

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Nyon 10: PLUG AND PRAY von Jens Schanze

'Plug and Pray' von Jens Schanze

Die Sektion tendances des Festivals hat tatsächlich die eine oder andere Überraschung zu Zeitfragen auf Lager. Jens Schanzes Plug & Pray setzt sich mit der Computertechnik, der Suche nach künstlicher Intelligenz und der Robotik auseinander. Aber nicht so, wie die meisten der atemlosen Technikmagazine am Fernsehen, sondern hauptsächlich über zwei Antagonisten. Einerseits den Zukunftsevangelisten Raymond Kurzweil, der den ersten Vorlese-Synthesizer für Blinde gebaut hat und seither unermüdlich die Zukunft beschwört, bis hin zu Nanocomputern, welche dereinst unsere roten Blutzellen ersetzen und als Maintenance-Systeme die ewige Jugend garantieren sollen. Auf der anderen Seite der 2008 verstorbene ehemalige MIT-Computerprofessor Joseph Weizenbaum, der im Alter zum unermüdlichen Advokaten für mehr Menschlichkeit und weniger technokratisches Zukunftsgebabbel geworden war.

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Nyon 10: Die Nachfolge Perret: Luciano Barisone

Luciano Barisone ©sennhauser
Luciano Barisone ©sennhauser

An einer Pressekonferenz in Nyon hat Claude Ruey, der Präsident des Vereins Visions du réel eben die Nachfolge für Jean Perret als Direktor des Festivals bekanntgegeben: Luciano Barisone vom Festival dei popoli von Florenz. Barisone wird die Hälfte des neuen Leitungsteams ausmachen, die Geschäftsführung wird erst noch gesucht. Über seine Pläne für das Festival konnte und wollte Barisone noch nicht reden, dafür wird es in einigen Monaten eine eigene Pressekonferenz geben. Und für die unglückliche Terminierung der Festivalausgabe nächstes Jahr unmittelbar vor dem Festival von Cannes, nämlich vom 5. – 11. Mai 2011 kann er nichts, das Datum wurde von der aktuellen Equipe festgelegt.

Nyon 10: SOMETHING ABOUT GEORGIA von Nino Kirtadze

Micheil Saakaschwili in 'Something about Georgia' von Nino Kirtadze
Micheil Saakaschwili in 'Something about Georgia' von Nino Kirtadze

Auch der politische Dokumentarfilm lebt in Nyon weiter. Allerdings ist das, was die in Paris lebende Georgierin Nino Kirtadze gestern Abend hier gezeigt hat nicht die klassische Dokumentation über die laufende Invasion eines Staates. Radikal subjektiv und ganz aus der Sicht der Bevölkerung gefilmt, erzählt sie von jenen verhängnisvollen Tagen im August 2008, als Russland die Invasion begann, im Zusammenhang mit den Unabhängigkeitsbestrebungen von Süd-Ossetien und Abchasien. Kirtadze beginnt den Film mit der Frage, ob Georgiens Traum von der Zugehörigkeit zu Europa, von einer freien demokratischen Gesellschaft nicht vielleicht Georgiens Fluch darstelle?

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Nyon 10: GURU – Bhagwan, His Secretary & His Bodyguard

'Guru' von Sabine Gisiger und Beat Häner

Die Zeit ist offensichtlich reif für die Aufarbeitung der Gurus. Bhagwan Shree Rajnees, dem in den Siebziger Jahren auch viele blumenkindersehnsüchtige Schweizerinnen und Schweizer anhingen, den Ashram in Poona besuchten und seine Sex-Befreiungbücher lasen, hat seine Spuren hinterlassen. Heute lebt seine einstige Sekretärin und rechte Hand, Sheila Birnstiel, die Frau, welche die amerikanische Bhagwan-Kolonie aufgebaut hatte und schliesslich dafür im Gefängnis landete, in Maisprach in der Schweiz. Und Hugh Milne, der hünenhafte Schotte, der in Poona der Bodyguard des Bhagwans gewesen war, führt ein Zentrum für Craniosakral-Therapie in Big Sur in Kalifornien. Sehr offene und geschickt montierte Interviews mit den beiden fügen Sabine Gisiger und Beat Häner zusammen mit Unmengen von Archivmaterial zu einem schlüssigen Bild einer dieser Hippie-Bewegungen, bei denen sich der Traum von der alternativen Gesellschaft in einen Albtraum verwandelt hat.

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Nyon 10: Gesammelte Jahrgänge

Videothek Nyon

Seit 1995 sammeln sich im Büro der Visions du réel in Nyon die Videokassetten, ein paar Jahre später fing es dann mit den DVD an. Jean Perret und sein Team waren am Anfang ja strenge Verfechter der 35mm Kopie, in den ersten Jahren kam in Nyon nichts anderes auf die Leinwand. Was nicht heisst, dass Video für Visionierungszwecke nicht zugelassen war. Heute bilden die Spuren dieser Jahre eine eindrückliche Videowand in den Festivalbüros. Auf dem Bild sind die Videos ab ca. 2001 zu sehen, links davon wäre eine weitere Wand mit DVD. Die Atmosphäre, welche von den Dingern ausgeht hat etwas Magisches, anders als Bücher sind Filmdatenträger aber nicht beruhigend, sondern bestenfalls euphorisierend, im schlimmeren Fall machen sie mich kribbelig. Nur schon, weil der einzige Impuls da sein kann, sich hinzusetzen und oben links mit Visionieren anzufangen…

Nyon 10: INTO ETERNITY von Michael Madsen

Into Eternity: Michael Madsen

Auch ernsthafte Dokumentarfilme können pompös wirken, und Kitsch ist manchmal nötig, um den heiligen Schauer zu erzeugen, der dem Kino zu eigen ist. Wenn der Däne Michael Madsen sich mit Into Eternity dem finnischen Onkalo widmet, dann weht schon in den ersten Bildern ein Hauch von Ewigkeit durch den Saal. Denn Onkalo ist ein Endlager für nuklearen Abfall, ein riesiges Tunnelsystem im Permafels, das 100’000 Jahre dichthalten soll. Das ist eine Zeitspanne, die unser Geschichtsverständnis um ein mehrfaches überdehnt, ein Zeitraum, den niemand ernsthaft berechnen kann. Die grösste Gefahr für so ein Lager geht von unseren Nachfahren aus, darin sind sich die meisten Protagonisten im Film einig. Denn die dürfen nie vergessen, Onkalo zu vergessen, bzw. sie müssen lernen, die Erinnerung daran auszulöschen, und das für alle kommenden Generationen. Ein logischer Treppenwitz wie so vieles, was mit der Endlager-Thematik zu tun hat.

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Nyon 10: VIDEOCRACY

Videocracy Berlusconi

Toller Titel, schönes Versprechen: Videocracy des Italieners Erik Gandini verkauft sich als gnadenlose Autopsie der Macht, welche Silvio Berlusconi über Italien dank seines Medienimperiums ausübe. Tatsächlich aber kocht Gandini hier „eine dünne Suppe“ (Dokfilmkollege K.W. aus A.), die zudem noch zu guten Teilen aus genau jenen Bildern besteht, die er denunzieren möchte. Weibliche Rundungen, Blondinen, Veline eben … Dass Berlusconis Macht auf Ärsche und Titten gebaut sei, ist weder neu noch völlig zutreffend. Und wenn Gandini dann noch zwei weitere Gestalten ins Spiel bringt, den mächtigsten TV-Agenten und Berlusconi-Freund und den Signor Corona, seines Zeichens Herr über ein Paparazzi-Imperium, das seine Fotos von den Reichen und Mächtigen gegen Entgelt nicht an die Klatschblätter Berlusconis verkauft, dann macht dies den Film auch nicht überzeugender.

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Nyon 10: JAKE, NOT FINISHED YET

'Jake, not finished yet' von Ian Thomas Ash

Ein schöner Start in den diesjährigen Wettbewerb, mit diesem Film von Ian Thomas Ash, denn er zeigt einmal mehr die Kontinuität von Nyon. 2006 war Ash, ein Amerikaner, der in Japan lebt, mit The Ballad of Vicki and Jake hier in Nyon, einem sehr intimen Film über eine drogensüchtige Mutter mit ihrem kleinen Sohn. Immer wieder hätten ihn die Leute nach dem Film gefragt, wie es denn mit dem Jungen weitergegangen sei (die Mutter ist gestorben). Jake, not finished yet gibt die Antwort darauf und zwar so, wie sie der heute 18jährige selber gibt: Nicht etwa „what happened to Jake“, sondern eben „what happens to Jake? I am not finished yet, am I?“

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Nyon 10: Jean Perret ist eine Strasse

Rue Saint-Jean, Nyon

Das Städtchen Nyon hat sein weltweit renommiertes Festival nicht immer mit der gleichen Inbrunst gepflegt, die Hotelknappheit besteht weiter, und kein Restaurant erbarmt sich nach 23 Uhr der Nachtwschwärmer, die aus den Festivalkinos kommen. Aber dem scheidenden Festivaldirektor Jean Perret hat die Kommune am Genfersee nun doch in aller Heimlichkeit und ohne Aufsehen zu erregen ein Denkmal gesetzt, entlang dem Hauptplatz. Das war völlig ohne Aufwand und Katasteränderung möglich, brauchte es doch nur eine kleine Bewusstseinsveränderung, um die bestehende Strasse in neue Richtungen verlaufen zu lassen.