Cannes 09: Inglourious Basterds

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Das Kino war randvoll, aber der Irrsinn hielt sich in Grenzen heute morgen. Zumindest bis der Film anfing. Inglourious Basterds zelebriert Quentin Tarantinos Liebe zum Trash- und Actionkino der siebziger Jahre weiter, gleichzeitig ist der Film aber für Cannes und sein Festivalpublikum gemacht: Er ist randvoll mit cinéphilen Aperçus, er spielt zu grossen Teilen in einem Kino in Paris, eine der Heldinnen erklärt einem deutschen Besatzungssoldaten, sie sei Französin und in Frankreich liebe und respektiere man die Auteurs, und schliesslich ist einer der britischen ‚Basterds‘ ein Filmkritiker und Filmhistoriker. Wer aber sind die ‚Basterds‘?

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Cannes 09: Les herbes folles

Les herbes folles Alain Resnais

Den neuen Film des 87jährigen Alain Resnais zu beschreiben, ist zwar möglich, aber kaum so, dass man ihm gerecht würde. In Les herbes folles spielt Resnais‘ Lebensgefährtin Sabine Azéma die Zahnärztin Marguerite Muir, ein überspanntes Wesen mit einem ständig unter Strom stehenden Haarschopf wie die Rote Zora. Sie fährt einen kanariengelben Smart Roadster, fliegt Kleinflugzeuge und restauriert mit fünf genialen Mechanikern zusammen eine alte Spitfire. Weil ihr beim Schuhekaufen in Paris ihre Tasche entrissen wird, findet der Frühpensionär George Palet (André Dussolier) ihre Brieftasche und ist fasziniert von den Fotos der Frau auf den Ausweisen. Der Film folgt einem Roman von Christian Gailly und er fühlt sich an wie ein munterer kleiner Fluss, der unaufhaltsam gluckernd seinen Lauf nimmt.

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Cannes 09: Kynodontas – Dogtooth

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Der «Hundezahn» ist der Eckzahn. Und wenn ein Eckzahn ausfällt, egal ob der rechte oder der linke, erst dann ist ein Kind erwachsen und kann das Haus und den Garten verlassen. Und erst, wenn der Eckzahn wieder nachgewachsen ist, ist das Kind alt genug, um Auto zu fahren. Und ohne Auto darf man den Garten nicht verlassen. Denn draussen lauern Monster, «Katzen» genannt, sie haben den ältesten Bruder zerfleischt.

Zombies sind kleine gelbe Blumen. Die drei fast erwachsenen Kinder dieses Ehepaars, zwei Mädchen und ein Junge, kennen keine andere Welt, als die innerhalb des Gartenzauns. Nur die junge Frau Christina, eine Eingangswächterin in der Fabrik des Vaters, wird hin und wieder von diesem nach Hause gebracht, im Auto, mit verbundenen Augen, um dem Jungen beim Ausleben seiner Sexualität zu helfen.

Es ist eine beklemmende Welt, welche der Grieche Yorgos Lanthimos in diesem Film zeichnet.

Der Film, der in Cannes in der offiziellen Reihe «Un certain regard» gezeigt wurde, ist mit minimalen Sets und sieben Schauspielern gedreht worden.

Die wie eine Versuchsanlage aufgebaute Situation erinnert an Michael Haneke, die Situation der drei jungen Leute an jene der Bewohner von M. Night Shyamalans The Village, denen die Dorfvorsteher weis machen, jenseits der grossen Wiese lebten die «Anderen», denen man nie in die Fänge geraten dürfe.

Dabei lässt einen dieser Film lange Zeit im Ungewissen darüber, warum sich diese zwei jungen Frauen und der junge Mann so eigenartig benehmen. Sie spielen kindliche Spiele und reden so emotionslos und eigenartig, als ob sie Sätze eines Sprachkurses üben würden. Nur gelegentliches Aufblitzen verzweifelter Aggressionen durchbrechen die Monotonie des Alltags.

Und es dauert auch nicht lange, bis man sich an all jene Diktaturen erinnert fühlt, in denen Wissen von den Mächtigen verwaltet und manipuliert wird. Und natürlich entzieht sich immer etwas der Kontrolle der Kontrolleure, Informationsfetzen von aussen bringen Gedankengänge ins Rollen, und wenn die jungen Leute falsche Schlüsse ziehen, muss das System nachgebessert werden, bis seine einstige Logik löchrig wird.

Kynodontas ist ein erschreckend effizienter und böser Film. Dass es mit so wenig Aufwand gelingt, eine eigentlich theatralische Anlage (der Regisseur kommt von der Bühne) filmisch umzusetzen, mit eindrücklichen Bildern, ist ein weiterer Beweis dafür, dass Filmemachen mit kleinem Budget zu grossen Resultaten führen kann.

Nachtrag 23. Mai: Der Film hat den «Prix Un Certain Regard» 2009 gewonnen.

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Cannes 09: Los abrazos rotos

Los abrazos rotos Pedro Almodovar
Penélope Cruz und José Luis Gómez in Almodóvars 'Los abrazos rotos'

Dieses Festival verstellt einem Jahr für Jahr den Blick auf die Realität, oder sagen wir: den Alltag des Kinos. Hier sind dermassen viele spannende, erstklassige, aussergewöhnliche und hin und wieder auch wirklich grossartige Filme zu sehen, dass man regelmässig schon nach ein paar Tagen zum Mäkler wird. Pedro Almodovar, zum Beispiel, hat oft genug bewiesen, dass er ein Magier der Kinoleidenschaft ist. Und Los abrazos rotos ist ein wunderbarer Film. Bloss nicht Almodovars bester und damit wohl auch wieder nicht die goldene Palme, die der Spanier seit Jahren ersehnt (und mit früheren Filmen längst verdient hätte). Wenn Filmemacher Filme übers Filmemachen machen, sind sie meistens in der Krise (Fellini mit Otto e mezzo, bzw. Woody Allen mit seinem persönlichen Remake davon: Stardust Memories). Die Krise des Filmemachers diktiert das Drehbuch.

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Cannes 09: Vincere

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Am 9. November dieses Jahres wird Marco Bellocchio 70 Jahre alt. Als die Heldin seines aktuellen Films, Ida Dalser, am 11. Dezember 1937 im Irrenhaus starb, war er also noch nicht mal geboren. Und als der Mann, der die Frau um den Verstand, ihr Glück und schliesslich ihr Leben gebracht hatte, am 28. April 1945 von Partisanen erschossen wurde, war Marco Bellocchio auch erst knapp 5 Jahre alt. Aber der Furor, den Bellocchio Benito Mussolini, dem Duce, angedeihen lässt, ist inspiriert und massiv.

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Cannes 09: Looking for Eric

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Das Team LavertyLoach bringt es immer wieder fertig, sein klassisches Thema von der Solidarität der kleinen Leute zu variieren. Looking for Eric ist der bisher vergnüglichste Film im diesjährigen Wettbewerb, mit Figuren, einer Geschichte und einem Höhepunkt, der ihm Full-Monty-Potential verleiht. Im Zentrum steht der Briefträger Eric, dem das Leben über den Kopf gewachsen ist. Aber während er in seinem Schlafzimmer heimlich einen Joint raucht, den er seinem älteren Sohn geklaut hat, taucht plötzlich sein Held bei ihm auf, der Fussballer Eric Cantona, und beginnt, ihn wieder aufzubauen. Erics schwacher Punkt ist seine grosse Liebe Lily, seine Frau, die er vor dreissig Jahren hat sitzen lassen.

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Cannes 09: Antichrist

Antichrist

So schön hat schon lange kein Film von Lars von Trier mehr ausgesehen. Und gleichzeitig liegt eine eigenartige Distanz in der Schönheit der Bilder, vor allem auch der Bilder des Schreckens. Denn Antichrist ist tatsächlich ein Horrorfilm. Allerdings nicht der, den der Trailer bei manchen Kollegen evoziert hat. Lars von Trier hat das Drehbuch am Ende seiner zweijährigen massiven Depression konzipiert, und was wir heute in Cannes gesehen haben, ist ein sehr kontrolliertes, kalkuliertes, doppelbödiges Stück Therapie-Therapie, ein Therapie-Exorzismus. Der Plot wird vom Presseheft treffend in zwei Sätzen zusammengefasst: Ein trauerndes Paar zieht sich zurück nach Eden, eine abgelegene Ferienhütte im Wald, in der Hoffnung, dort ihre gebrochenen Herzen und ihre gefährdete Ehe zu reparieren. Aber die Natur nimmt ihren Lauf und die Dinge entwickeln sich von schlimm zu schlimmer.

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Cannes 09: Un prophète

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Jacques Audiard kommt aus einer Filmemacherfamilie, seine Filme haben die Sicherheit und den langen Atem der Tradition. Gleichzeitig bringt er bei jedem neuen Film eine neue Fremdheit ein, die Neugier weckt und nervös macht. Bei seinem aktuellen Cannes-Wettbewerbsbeitrag Un prophète ist die Familie das Gefängnis, der Protagonist ein arabischstämmiger Franzose, und die Gefahr sowie die Fremdheit kommen aus allen Elementen eines Kino-Genres, gerade und vor allem den vertrauten. Gefängnisfilme sind genremässig ein vertrautes Territorium für jedes Publikum, ähnlich wie Gerichtsfilme verhandeln sie die Welt und die Gesellschaft in einer geschlossenen, überschaubaren Versuchsanlage. Aber Audiard verzichtet ausgerechnet auf diese Geschlossenheit des Systems. Der Junge wird mehr oder weniger direkt aus der Jugenderziehungsanstalt ins gnadenlose System der erwachsenen Insassen katapultiert. Vom Capo der korsischen Fraktion, der das Gefängnis mehr oder weniger kontrolliert, wird er sofort instrumentalisiert, um einen arabischen Zeugen umzubringen. Für die anderen Araber ist er damit Korse, für die Korsen bleibt er der „sâle arabe“. Aber die Gefängniswelt ist untrennbar mit der Aussenwelt verbandelt bei Audiard. „Cannes 09: Un prophète“ weiterlesen

Cannes 09: Taking Woodstock

Ang Lees 'Taking Woodstock' © Ascot-Elite Schweiz
Ang Lees 'Taking Woodstock' © Ascot-Elite Schweiz

Es gehört zu den vielen kleinen Klugheiten dieses Woodstock-Films, dass weder die Bühne noch die musikalischen Legenden je wirklich ins Bild kommen. Ein einziges Mal zeigt Ang Lee in Taking Woodstock einen Teil des legendären Open-Air-Konzertes: Ganz weit im Hintergrund, am Fuss des sanften Abhangs auf dem tausende von Zelten stehen, sieht man die erleuchtete Bühne, während die Hauptfigur, der junge Elliot Tiber auf dem Weg dorthin von einem Hippie-Paar im parkierten VW-Bus mit auf einen Acid-Trip genommen wird. Ang Lee und sein Screenwriter und Co-Produzent James Schamus haben die Memoiren von Elliot Tiber in einen dichten, fröhlichen, optimistischen Spielfilm geformt, der mit dokumentarischem Elan die Stimmung der ausgehenden 60er Jahre rekonstruiert.

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Cannes 09: Bright Star von Jane Campion

'Bright Star' von Jane Campion
‚Bright Star‘ von Jane Campion

Die kurze, heftige, vom nahen Tod des Dichters gezeichnete Liebesgeschichte zwischen dem 23jährigen Romantiker John Keats und seiner 18jährigen Nachbarin Fanny Brawne bezieht ihre unsterbliche Faszination – wie viele der Geschichten rund um die Romantiker – aus der Art, wie sie ihre schwärmerische Weltsicht in ihr tatsächliches Leben integrierten. So wie Jane Campion ihren Film angelegt hat, als vordergründig unsentimentalen, realistischen Vorstoss ins Jane-Austen-Territorium, verstärkt sie genau dieses erzromantische Element der lodernden Gefühle. Sie führt die junge Fanny als Fashion-bewusste Designerin und Näherin ein, zeigt die Schauspielerin Abbie Cornish zu Beginn des Films mit Nadel und Faden und dann bald darauf selbstbewusst, direkt und gnadenlos ehrlich in einem ländlichen Salon in Londons Vorort Hampstead, wo sie und ihre Familie den Dichter Charles Brown und seinen Freund Keats besuchen. Wirkt dieser erste Besuch noch ein wenig expositorisch, entfalten die nächsten Szenen bereits den leisen Sog, welcher diesen Film kennzeichnet: Die jungen Leute um Brown und Keats, um Brawne und die anderen reden über Dichtung und Gedichte mit der gleichen Leidenschaft, wie heutige Cinéphile über das Kino und die Filme und die Arbeit eines verehrten Könners.

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