Die wahren Löwen und Lämmer

Meryl Streep, Tom Cruise in: Lions for LambsRobert Redfords Lions for Lambs fasziniert und amüsiert derzeit im Kino bei uns und in den englischsprachigen Ländern. Für seinen Arbeitgeber BBC hat der politische Korrespondent Guto Harri den Film auf seinen Realitätswert hin angesehen. Insbesondere fasziniert zeigt er sich vom intimen Interview, das Meryl Streep über eine Stunde lang mit dem von Tom Cruise gespielten Senator führen darf. Seine intimste vergleichbare Erinnerung, so Harri, war ein kurzes Blitzinterview mit einem Kabinettsmitglied von Tony Blair am Urinal in der Parlamentstoilette. Weil der Mann dringend musste, zwischen zwei Sitzungen, und nur gerade da Zeit fand für den Journalisten. Trotzdem bescheinigt er dem Film ein ordentliches Potential für Wiedererkennungseffekte. (Mehr von uns zum Film im Podcast)

Fernsehrekord für die Herbstzeitlosen

Die Schweizer mögens gemütlich am Sonntagabend: Mit 1,34 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauern hat die Filmkomödie Die Herbstzeitlosen am Sonntagabend auf SF 1 einen neuen Rekord aufgestellt. Einen Marktanteil von 58,2 Prozent erreichte bisher noch kein anderer Schweizer Film. Bislang war der im Oktober 2004 ausgestrahlte Sternenberg mit 816’000 Zuschauern der publikumstärkste Schweizer Film im Schweizer Fernsehen (SF). Nun hat die Lingerieboutique der verwitweten Martha (Stefanie Glaser), die so viel Unruhe ins Emmentaler Dorf Trub bringt, aber noch eine halbe Million mehr Schaulustige angelockt. Mehr als jeder zweite, der am Sonntagabend vor dem Fernseher sass, schaute der aufblühenden Seniorin zu. Der Film von Bettina Oberli ist auch in den Kinos ein Grosserfolg. Mehr als 860’000 Besucher wurden bisher im deutschen Sprachraum gezählt, über 61’000 DVD gingen schon über den Ladentisch. Zudem hat das Bundesamt für Kultur die Komödie für einen Oscar in der Kategorie «bester fremdsprachiger Film» angemeldet. Wahrscheinlich staunt niemand mehr über den Riesenerfolg als Bettina Oberli selber – was ehrliche Freude darüber nicht ausschliesst.

Filmpodcast Woche 35: Death at a Funeral. I Was a Swiss Banker, Ingrid Bergman.

Herzlich Willkommen zum 40. Filmpodcast mit Michael Sennhauser. Pierre Lachat hat mit Regisseur Frank Oz über seine schwarze britische Komödie «Death at a Funeral» gesprochen, wir erinnern an Ingrid Bergman, die am 29. August vor 25 Jahren gestorben ist. Und wir stellen das Schweizer Sommerkinomärchen «I Was Swiss Banker» im Gespräch mit Regisseur Thomas Imbach vor. Dazu wie immer Kurztipps und Filmhörspiel.

Ang Lee – Zuviel Sex für die Amerikaner

Tony Chiu-Wai Leung und Wei Tang in ‚Se, jie‘ (2007)

Nur Tage bevor Ang Lees jüngster Film mit dem adäquaten Titel Se jie (Lust, Vorsicht) am Filmfestival von Venedig Weltpremiere feiert, hat die Jugendschutzkommission der Motion Picture Association of America (MPAA) dem Film eine NC-17 certification verpasst. Damit werden normalerweise besonders krude Horrorfilme ausgezeichnet, deren Publikumspotential damit von vorneherein auf eine eingeschränkte Zielgruppe reduziert wird. Ein Riesenerfolg, wie ihn Ang Lees Brokeback Mountain auch in den USA feiern konnte, ist damit ausgeschlossen.

Sowohl die New York Times wie auch der britische Guardian haben heute entsprechende Artikel online. Der Grund für das harsche Rating sind offenbar ein paar akrobatische und explizite Sexszenen mit Tony Leung und der Newcomerin Wei Tang. Gemäss dem Artikel bei der NYT ist Ang Lee überzeugt, dass diese Szenen absolut notwendig sind für seine Umsetzung einer Kurzgeschichte der chinesischen Autorin Eileen Chang. Für die Auswertung des Films in China war allerdings von Anfang an eine geschnittene Fassung vorgesehen. Sex und alles, was an Geschlechterpolitik damit zusammenhängt, hat in den meisten Filmen von Lee eine wichtige Rolle gespielt. Allerdings, so Lee in der NYT, hätte er es besonders hart gefunden, sich für diesen Film in die Welt der im asiatischen Raum hochverehrten Autorin Eileen Chang einzufühlen: „Es gab Tage, da hasste ich sie dafür. [ihre Welt] ist so traurig, so tragisch. Aber dann wird dir klar, dass es in ihrem Leben ein Defizit an Liebe gibt, an romantischer Liebe, an Familienliebe. Das ist die Geschichte über das, woran die Liebe für sie gestorben ist.“

Ich bin gespannt, ob der Film in den USA zum Kulturpolitikum wird, wie seinerzeit The Last Tango in Paris. Oder ob sich einfach wieder einmal zeigt, wie sehr Business (auf das die MPAA Ratings letztlich abzielen) und Kunst voneinander isoliert werden können im Kino. Insofern ist der Film weiterhin das wohl schillerndste Kulturphänomen überhaupt.

Filmpodcast für die Woche 34: Knocked Up, La vraie vie est ailleurs, Redford, Blösche

Herzlich Willkommen zum DRS Filmpodcast für die Woche 34. Michael Sennhauser stellt den Film «Knocked Up» vor, Brigitte Häring bespricht den neuen Schweizer Episodenfilm «La vraie vie est ailleurs» und Pierre Lachat gratuliert Robert Redford zum 70. Geburtstag. Im Anschluss daran folgt ein halbstündiges Gespräch von Pierre Lachat mit dem Filmverleiher Wolfgang Blösche von der Zürcher Filmcoopi. Dazu wie immer Kurztipps und Filmhörspiel.

Goldener Leopard für Kobayashi

Kobayashi Masahiro © Locarno Film Festival

Keine grosse Überraschung: Mit „Ai no yokan“ (The Rebirth – Die Wiedergeburt) vom Japaner Masahiro Kobayashi hat eindeutig der radikalste Film im Wettbewerb von Locarno gewonnen, der konsequenteste.

 

 

Kobayashi zeigt die junge Noriko, deren Tochter eine Schulkollegin umgebracht hat, und Junichi, den verwitweten Vater des ermordeten Mädchens (gespielt vom Regisseur) in einem endlosen, repetitiven, einsamen pas-de-deux. Beide haben sich nach dem Mord zurückgezogen, seltsamerweise an den gleichen Ort. Noriko arbeitet in der Küche der Pension, in der Junichi lebt. Der Film zeigt in stets nur minim variierten Sequenzen immer und immer wieder die gleichen Ausschnitte aus dem stummen, eintönigen Tagesablauf der beiden. Zunächst sucht er einen Weg, mit ihr zu kommunizieren, und sie verweigert alles. Dann bemüht sie sich immer und immer wieder, bleibt dabei aber sprach- und hilflos. Immer wieder sieht man sie beim Braten von Eiern, ihn nach Schichtwechsel, beim Eintritt in die Produktionshalle der Giesserei, in der er arbeitet. Bald mutet der Film wie ein endloser, banaler Albtraum an. Sie sucht sein Verzeihen, eben so wie er, der längst so weit ist, dass er ohne ihre Gegenwart nicht mehr leben kann, sie aber auch nicht erträgt, eigentlich schon längst ihre Vergebung für sein Nichtvergeben herbeiwünscht.

Kobayashi ist mit seinen 53 Jahren kein Nachwuchsregisseur und seit etwa zwei Jahren hat er den Status eines interessanten Avantgardisten. Insofern versteht man Jury-Präsidentin Irène Jacob, wenn sie vor den Medien erklärte, es sei fast nicht möglich gewesen, die 19 Filme im Wettbewerb auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Dass ein offensichtlich noch von etlichen Mängeln behafteter Film eines Nachwuchsregisseurs wie Fulvio Bernasconi keinen Stand hat gegenüber der radikalen Reduktion des Siegerfilms, ist ja einleuchtend. Dass die Jury beim Darstellerpreis unter ähnlichen Nöten gelitten hat, ebenfalls. Nur so lässt sich jedenfalls erklären, dass sie den Preis für den besten Darsteller „ex aequo“ dem grossartigen Michel Piccoli und dem noch weitgehend unbekannten Michele Venitucci für die Hauptrolle in Fuori dalle corde von Bernasconi gegeben hat.

Ich bin sicher zufriedener heute als die Jury, die einige knallharte Diskussionen hinter sich haben dürfte. Mir haben sie nämlich die Freude gemacht und meinen Lieblingsfilm Capitaine Achab mit dem Regiepreis für Philippe Ramos ausgezeichnet.

Extraordinary Rendition (Wettbewerb)

Ich habe schon lange keinen so sinnlosen Film mehr gesehen. Diese wütende Folterorgie vom Briten Jim Threapleton erzählt vom jungen Lehrer Zaafir, der im Namen der Terrorbekämpfung in London auf offener Strasse entführt und zur Folterung in ein anderes Land geschmuggelt wird. Der Film vermittelt drei Erkenntnisse: 1. Folter ist schrecklich. 2. Folter hinterlässt bleibende Schäden auch bei den Angehörigen. 3. Anti-Terror-Gesetze, die so etwas ermöglichen, darf es nicht geben. Nun versucht ja der Tessiner Ständerat Dick Marty seit 2005 die Welt von der Existenz solcher extraterritorialer US-Folterlager und der Praxis der „aussergewöhnlichen Auslieferung“ zu überzeugen, sein im Auftrag des Europarates verfasster Bericht liegt vor, und wird seltsamerweise von der Öffentlichkeit weitgehend ignoriert. Daran wird ein Film wie Extraodinary Rendition nichts ändern, im Gegenteil. Wenn ich mich im Kino 75 Minuten lang foltern lassen muss, ist die normalste Reaktion darauf der emotionale Rückzug. Und in Sachen Erkenntnisgewinn bringt er niemanden weiter, weil keine Zusammenhänge, keine Motivationen der Folterer, eigentlich überhaupt nichts ausser des subjektiven Horrors vermittelt wird. Daran ändert auch Gollum-Darsteller Andy Serkis in einer zentralen Rolle nichts.

Waitress (Piazza Grande)

Es kommt nicht oft vor, dass ein Spielfilm sozusagen posthum uraufgeführt werden muss. Aber die Drehbuchautorin, Schauspielerin und Regisseurin Adrienne Shelly wurde letztes Jahr in ihrem Büro in New York ermordet, bevor der Film am Sundance Festival seine Uraufführung hatte. Die Geschichte einer Frau, die sich befreit, ist daher ihr Vermächtnis, ein rührendes. Waitress ist ein Musical ohne Gesang, ein Groschenroman in liebevollem Pseudo-Technicolor, eine herzerwärmend altmodisch inszenierte Geschichte mit einer hochmodernen Hauptdarstellerin und einer überraschend zeitgemässen Auflösung. Jenna (eine hinreissende Keri Russell) ist Kellnerin und Wähenbäckerin in einem kleinen Diner. Sie ist verheiratet mit einem schrecklichen Mann, schwanger von ihm, unglücklich und daran, ihre Flucht vorzubereiten, als sie sich Hals über Kopf in einen jungen Arzt verliebt, ihren künftigen Geburtshelfer. Das Figurenarsenal stammt aus den 50er Jahren, erinnert an Fernsehserien, die drei Kellnerinnen mit Herzen aus Gold, der böse Ehemann, der wunderbare Doktor, der grummelige Alte, dem das Diner gehört … und doch gelingt es Shelly, die Sache radikal gegen den Strich zu bürsten. Die Dialoge sind frech und direkt und modern, eher Sex and the City als Fifties, die Moral dagegen ist solide klassisch. Das ergibt einen scheinbar unauflösbaren Kontrast, der immer wieder überrascht. Keri Russell erinnert an Romy Schneider, an die junge Diane Lane, und hat zugleich eine leuchtende Präsenz, die ganz eigen ist. Der Film kommt daher wie eine Kitschgeschichte, er sieht so aus, er benimmt sich so, und ist doch oft erschreckend direkt, zeitgemäss. Ich habe noch nie ein solches Kinoprodukt gesehen, das sich gebärdet wie klassisches Kino, dabei die Frechheit einer modernen US-TV-Serie hat. Vielleicht liegt es an Adrienne Shelly und ihrer vielfältigen Arbeit, vielleicht war es aber auch einfach eine Frage der Zeit, bis die Fernseh-Entwicklung, weg von den doofen Soaps, hin zu „sophisticated urban fare“ ihren Niederschlag im Kino finden würde. Die Avantgarde der Unterhaltung passiert ja tatsächlich längst im Fernsehen. „Waitress“ ist vielleicht ein erster Versuch der Rückeroberung. Schade war es auch Shellys letzter.

Joshua (Wettbewerb)

Roman Polanski hat mit Repulsion und mit Rosemary’s Baby die Geschichte des Horrorfilms nachhaltig beeinflusst. Seither sind viele epigonale Filme über das Böse im Alltag die Lethe hinunter geschwommen, es war Zeit für eine Neuevaluation. Mit Joshua hat George Ratliff das Kunst(handwerk)stück geschafft, der Film ist die perfekte Synthese von „Rosemary’s Baby“ mit der kommerziell erfolgreichen The Omen-Tetralogie. Joshua ist ein 9jähriger Junge in New York, den die unerwartete Ankunft einer kleinen Schwester in eine tiefe Eifersuchtskrise stürzt. Schon in den ersten zehn Filmminuten erklärt er seinem Vater, dass dieser keineswegs verpflichtet sei, ihn zu lieben. Und von diesem Moment an verdichten sich die subtilen Zeichen, dass der Junge (Jacob Kogan, der auftritt wie ein Klon von Fredi Murers Klavier-Wunderkind Vitus) nicht nur erschreckend intelligent ist, sondern offensichtlich auch eine eigene Vorstellung davon hat, was seinem Leben fehlt. Joshua ist ein Film ohne Spezialeffekte, ohne offensichtliche Horrorelemente (abgesehen vom wirksamsten aller Kinohorror-Elemente, dem starren Blick eines Kindes in die Kamera). Das ist schweisstreibend und manchmal wunderbar bösartig, politisch unkorrekt und aufgeladen wie fast alle amerikanischen Horrorfilme vor einer heimlichen Angst vor dem christlichen Fundamentalismus. Joshuas Mutter ist Jüdin, die Eltern des Vaters sind bigotte Christen, der Familienhorror wäre garantiert auch ohne die Präsenz des eifrigen Jungen. Handwerklich ist das der bisher perfekteste Film im Wettbewerb, und konsequenterweise auch der erste, der schon ganz klar seiner kommerziellen Kinoauswertung entgegen schaut (Fox Searchlight).

Capitaine Achab (Wettbewerb)

Moby Dick von Melville ist eines meiner Leib- und Magenbücher. Enstprechend gespannt bin ich denn auch jeweils auf Versuche, dem Stoff filmisch etwas abzutrotzen. Gescheitert sind schon manche daran, inklusive John Huston und Orson Welles. Capitaine Achab von Philippe Ramos (F) ist der seit langem originellste Versuch und mitunter sehr anrührend. Ramos meint, wenn das Buch „Moby Dick; or, The Whale“ heisse, dann sei sein Film eben „Capitaine Achab or, The Man“. Und tatsächlich ist es ihm gelungen, diesen Sprung zu machen. Das Buch ist unter anderem die Geschichte der Jagd auf einen Gott. Der Film erzählt in fünf Kapiteln vignettenartig aus der Jugend und aus dem Leben von Achab, versucht,zu umreissen, wie aus dem Waisenjungen im Wald ein derart besessener Sucher- und Jäger auf dem Meer geworden ist. Gedreht im Freien und in musealen Dekors, evoziert der Film wirklich eine Jugend, die schlüssig auf das Buch hin führt. Der erwachsene, sozusagen komplette Achab wird schliesslich von Denis Lavant gespielt, einem der markantesten Gesichter des französischen Films. Das ist ein Film voller Versprechen und Erinnerungen, ich fühlte mich zwischen durch zurückversetzt in die Lektüre von Mark Twains „Huckleberry Finn“, dann wieder in die fiebrigen Tage der ersten Moby Dick Lektüre. Der Film ist stilisiert, modern im Blick, altmodisch im theatralisch kargen Dekor und letztlich eine Liebeserklärung an die Magie, welche das Lesen im Kopf auslöst. Ein Hybrid, aber ein wunderbarer.