Locarno 14: ELECTROBOY von Marcel Gisler

'Electroboy' © Vinca Film GmbH
‚Electroboy‘ © Vinca Film GmbH

Florian Burkhardt war wohl ein mehrfaches Zeitgeistkind. In seiner Raupen-Jugend, die Marcel Gislers Dokumentarfilm allmählich und sorgfältig aufblättert, vor allem aber in seinen schillernden Schmetterlingsphasen als Möchtegern-Filmstar, international erfolgreiches Fotomodell und Posterboy, Webdesign-Pionier und schliesslich Party- und Musik-Designer Electroboy.

„Generalisierte Angststörung bei narzisstischer Persönlichkeitsstruktur mit
Selbstwert- und Identitätsproblematik mit Anteilen einer sozialen Phobie.“

Dieser Satz aus der psychiatrischen Akte, die nach Florians Selbsteinlieferung angelegt worden war, gab für Marcel Gisler den Ausschlag, das Dokumentarfilmprojekt über den „Electroboy“ anzugehen. Nachdem er zwei Jahre früher ein Spielfilmprojekt abgelehnt hatte. Der Dokumentarfilmvorschlag der Zürcher Produzentin Anne-Catherine Lang leuchtete ihm ein.

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Locarno 14: LA SAPIENZA von Eugène Green

La sapienza 3

Eine fixe Kamera, formal strenge Schuss-Gegenschuss-Montage, Schauspieler, die knapp an der Kamera vorbeiblickend mit sehr sparsamer Mimik ihre sehr formalisierten Dialoge sprechen. Und dazwischen Landschafts- und Architekturbilder von unglaublicher Schönheit und Symmetrie.

In den Filmen des in New York geborenen Franzosen Eugène Green scheint jedes Element seinen genau vorgesehenen Platz einzunehmen, jedes Wort an seiner exakt vorgeschriebenen Stelle zu fallen, jedes Augenzwinkern mit inszeniert zu sein. Und wenn in einer Totale eine Taube über die Borromäischen Inseln im Luganersee fliegt, so wirkt es, als habe der Regisseur auch dieser Taube eine exakte Regieanweisung gegeben. „Locarno 14: LA SAPIENZA von Eugène Green“ weiterlesen

Locarno 14: DURAK – The Fool von Yuriy Bykov

Durak The Fool 1

Dass sein Film von Dostojewskis „Der Idiot“ inspiriert ist, davon sagt Bykov in den Unterlagen zum Film kein Wort. Und doch scheint es ziemlich offensichtlich, dass sein aufrechter Klempner Dima Nikitin ein moralischer Verwandter ist von Dostojewskys Lew Myschkin.

Bei Bykow wird das nun aber sehr zeitgenössisch, sehr dramatisch und sehr pessimistisch: Der Korruption des politischen Apparates ist der anständige Mann nicht gewachsen, nicht einmal seine Frau und seine Mutter verstehen seine Anständigkeit in einer Stadt, in der sich jeder nimmt, was er kann. „Locarno 14: DURAK – The Fool von Yuriy Bykov“ weiterlesen

Locarno 14: VENTOS DE AGOSTO von Gabriel Mascaro

Ventos de Agosto 1

Das ist zwar der erste Spielfilm des Brasilianers Gabriel Mascaro, aber er versteckt in keiner Sekunde, dass er vom Dokumentarfilm kommt. Mit früheren Arbeiten war er auch schon zu den Visions du réel in Nyon eingeladen worden.

Die erste Einstellung kommt von einer Kamera, welche fix auf einem Boot montiert ist, das an Mangroven vorbei aufs offene Meer fährt. Dann sieht man einen Mann mit Speer tauchen und schliesslich, aus einer ähnlich starren Perspektive, die attraktive Shirley im Bikini auf dem Boot an der Sonne. Sie holt eine Dose Cola hervor und reibt sich den Körper damit ein, als ob es Sonnencrème wäre. „Locarno 14: VENTOS DE AGOSTO von Gabriel Mascaro“ weiterlesen

Locarno 14: EXIT von Hsiang Chienn

Shiang-chyi Chen als Ling
Shiang-chyi Chen als Ling

So kunstvoll und konsequent hat schon lange niemand mehr sein Publikum deprimiert wie der Taiwanese Hsiang Chienn mit diesem Erstling. Ling ist 45 Jahre alt und lebt in einer nicht mehr taufrischen Wohnung in einem Betonklotz. Ihr Mann ist geschäftlich unterwegs und sie erreicht, wenn überhaupt, nur seine Combox.

Lings Tochter bekommen wir einmal kurz zu sehen, sie ist zumindest nie gleichzeitig wie die Mutter zu Hause und hat für diese auch nur Augenrollen übrig. Ling fühlt sich nicht wohl und geht doch pflichtbewusst täglich ihre Schwiegermutter im Spital besuchen und pflegen. Im Bett gegenüber der alten Frau liegt ein bandagierter Mann im Koma, mit Augenbinden, Verbrennungen, Bein im Gips und mit einem permanenten Stöhnen und Röcheln. „Locarno 14: EXIT von Hsiang Chienn“ weiterlesen

Locarno 14: LUCY von Luc Besson

Scarlett Johansson ist 'Lucy' © UPI Switzerland
Scarlett Johansson ist ‚Lucy‘ © UPI Switzerland

Bei einem erzwungenen Drogentransport läuft ein Teil des Stoffes im Körper der Studentin Lucy aus und macht sie zur Wonderwoman mit Killerinstinkt.

Scarlett Johansson ist hinreissend in der Rolle, die einst für Angelina Jolie konzipiert wurde. Als junge Frau, deren Intelligenz und Fähigkeiten explodieren, bringt sie eine Spur Identifikationspotential in die Rolle ein. Gerade so viel, um Bessons hirnrissige Achterbahn vom Universum der Marvel-Superhelden abzugrenzen. „Locarno 14: LUCY von Luc Besson“ weiterlesen

JERSEY BOYS von Clint Eastwood

© Fox-Warner
© Fox-Warner Schweiz

Ein Musical, inszeniert vom ewigen Rauhbein Clint Eastwood? Und dann noch ein Musical über eine der bekanntesten Pop-Gruppen der 60er Jahre? Jersey Boys erzählt vom Aufstieg und Fall der „Four Seasons“ und ihrem Leadsänger Frankie Valli – und dass ausgerechnet Clint Eastwood diese Geschichte inszeniert, hat schon seine Logik.

„Big Girls don’t cry… ei… ei“, das ist einer der Evergreens von Frankie Valli und den Four Seasons. Und das war einer jener Hits, welche die vier jungen Männer aus New Jersey zur grössten Pop-Sensation vor den Beatles werden liessen, im Jahr 1962. Damals spielte der junge Clint Eastwood in der Western-Serie Rawhide den Cowboy Rowdy Yates (im Film ist ein kurzer Moment aus der Serie auf einem Fernsehschirm zu sehen) und wartete auf seinen eigenen grossen Durchbruch. „JERSEY BOYS von Clint Eastwood“ weiterlesen

WIR SIND DIE NEUEN von Ralf Westhoff

Heiner Lauterbach, Gisela Schneeberger, Michael Wittenborn © filmcoopi
Heiner Lauterbach, Gisela Schneeberger, Michael Wittenborn © filmcoopi

Das Kino liebt romantische Lebensmodelle für ältere Leute: The Best Exotic Marigold Hotel oder Dustin Hoffmans Quartet zeugen davon. Ganz anders die deutsche Kinokomödie Wir sind die Neuen. Da stösst eine Alters-WG nämlich auf ziemlich unerwartete Hindernisse – Studenten. „WIR SIND DIE NEUEN von Ralf Westhoff“ weiterlesen

NIFFF 14: WHITE GOD (Fehér isten) von Kornél Mundruczó

Who Let the Dogs out? © Match Factory
Who Let the Dogs out? © Match Factory

Ungarn geht vor die Hunde. So einfach und direkt könnte man Kornél Mundruczós Film interpretieren. Aber zu dem Schluss könnte man ja auch kommen, ohne den Film zu sehen. Und das wäre dann wirklich blöd. Denn was der Regisseur von Delta hier mit einem jungen Mädchen und über zweihundert Hunden auf die Leinwand bringt, ist einzigartig.

Die vordergründige Story von White God ist simpel, eigentlich fast schon Lassie come Home: Ein Mädchen verliert seinen treuen Hund, weil sein Vater ihn am Stadtrand aussetzt: Hunde sind in seiner Wohnung nicht erlaubt. Nun sucht der Hund das Mädchen und das Mädchen den Hund. Der Hund allerdings durchlebt einen wahren Höllensturz und wird schliesslich zum Anführer einer blutigen Hunderevolution. „NIFFF 14: WHITE GOD (Fehér isten) von Kornél Mundruczó“ weiterlesen

NIFFF 14: LE P’TIT QUINQUIN von Bruno Dumont

Bernard Pruvost ist Le commandant van der Weyden © arte
Bernard Pruvost ist Le commandant van der Weyden © arte

In einem Bunker aus dem zweiten Weltkrieg im Boullonais am Ärmelkanal wird eine tote Kuh gefunden. Und in der Kuh eine tote Frau, in kleinen Teilen und ohne Kopf. Grotesker könnte eine TV-Miniserie kaum anfangen. Wenn dann noch eine Gruppe altkluger Kinder dazukommt, und ein Polizist zwischen Maigret und Inspecteur Clouseau, der Ch’ti spricht, dann wissen wir, dass nichts mehr undenkbar sein wird. Und dass das Böse einen grossen Sinn für Humor hat.

Bruno Dumont, der eigensinnige Regisseur von Cannes-Filmen wie L’humanité, Flandres oder Hors Satan, aber auch Camille Claudel 1915 mit Juliette Binoche, ist der letzte, von dem man erwartet hätte, dass ihn eine Fernsehserie reizen könnte. Dumont ist ein Mann der grossen Tableaus, der leeren Landschaften, des Windes und des französischen Nordens. Aber nach Jane Campions Top of the Lake wollte auch Arte den Versuch wagen und gab Dumont mehr oder weniger carte blanche für einen Vierteiler.

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