Locarno 12: DER GLANZ DES TAGES von Rainer Frimmel und Tizza Covi

Der Glanz des Tages 1

Was unterscheidet den Schauspieler vom Zirkusmann? Wer ist eher in Gefahr, sich in fremden Bildern zu verlieren? Philipp Hochmair ist ein Theaterstar zwischen Burgtheater und dem Hamburger Thalia, ein vielbeschäftigter Schauspieler. Walter Saabel stammt aus Deutschland, hat aber mit Zirkussen und Wandertruppen halb Europa bereist, ist mit Bärenringkämpfen aufgetreten und als Messerwerfer, und er hatte eine zentrale Rolle in La Pivellina, dem ersten eigentlichen Spielfilm von Tizza Covi und Rainer Frimmel.

Die beiden kommen vom Dokumentarfilm, lassen aber auch gerne die Fiktion auf die Realität los. Und im Fall von Der Glanz des Tages führt das zu einer spannenden Gegenüberstellung von zwei Seiten des Showgeschäftes: Der bürgerliche Schauspieler, auch schon ein Randständiger innerhalb seiner Gesellschaft, trifft auf den fahrenden Artisten, der seine Welt ganz grundsätzlich mit sich führt und selber bestimmt.

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Locarno 12: BERBERIAN SOUND STUDIO von Peter Strickland

Cosimo Fusco und Toby Jones
Cosimo Fusco und Toby Jones

Ein biederer englischer Tontechniker, der sonst vor allem Zuhause tüftelt und Landschaftsdokumentationen vertont, hat einen Job angenommen in einem italienischen Postproduktionsstudio – in den 70er Jahren. Und das Studio ist nicht etwa eines der grossen, sondern eine kleine Klitsche, in welcher Giallos, italienische Horrorfilme, vertont werden.

Der Brite, klein, scheu und im Tweed-Jacket, wird vom unverwechselbaren Toby Jones gespielt und der stolpert linkisch durch die Billigbude, wo ihn schon die Rezeptionistin, ein Lollobrigida-Verschnitt, mit Verachtung erschreckt und wo ihn der Studiobetreiber im Soundraum empfängt wie eine italienische Variante der von Vincent Price gespielten mörderischen Gastgeber.

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Locarno 12: UNE ESTONIENNE A PARIS von Ilmar Raag

Laine Mägi und Jeanne Moreau

Eine Leinwandbegegnung mit Jeanne Moreau ist grundsätzlich ein Erlebnis, auch wenn dieser hübsche kleine Film zunächst bloss eine Variante auf Driving Miss Daisy und Konsorten zu sein scheint. Sie spielt Frida, eine Frau aus Estland, die ihr Leben in Paris verbracht hat, da glücklich und reich und später unglücklich und alt geworden ist. Und die Altenpflegerin aus Estland, welche ihr ihr einstiger jüngerer Geliebter hat kommen lassen: Die braucht sie nun wirklich nicht.

Der schöne Kniff des Films besteht darin, dass er die Geschichte von Anfang an aus der Perspektive von Anne erzählt, die in Estland ihre Mutter pflegte bis diese starb und nun die Chance wahrnimmt, den Jugendtraum von Paris als Hausdame wahrzunehmen. Natürlich geräte sie zwischen die tyrannische, einsame alte Frau und den Mann, der sich zwar um ihr Wohlergehen kümmern, aber sich möglichst wenig mit ihr abgeben möchte.

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Locarno 12: LORE von Kate Shortland

Sakia Rosendahl in 'Lore' ©look now
Sakia Rosendahl in ‚Lore‘ ©look now

Lore ist eingängig, plakativ, überzeugend und direkt. Es ist die Geschichte eines Kindes, das nicht nur schlagartig erwachsen werden muss, sondern gleichzeitig das Glaubenssystem verliert, das seine Welt zusammengehalten hat. Lore ist die älteste Tochter einer Nazi-Familie. Bei Kriegsende werden die Eltern verhaftet und Lore muss versuchen, sich mit ihren vier jüngeren Geschwistern, eines davon noch ein Baby, quer durch das sektorisierte und in Auflösung begriffene Deutschland nach Husum durchzuschlagen, zur Grossmutter. Und auf dem Weg wird ausgerechnet ein jüdischer Junge zum Begleiter und Beschützer der Kinder. Ein Untermensch, ein Feind, ein Unberührbarer – der auf Lore aber zunehmend faszinierend und anziehend wirkt

Das Entnazifizierungsstück gehört seit ein paar Jahren fix zu Locarno. 2009 war es Unter Bauern, letztes Jahr Achim von Börries‘ Vier Tage im Mai. Aber die deutschen Bemühungen bleiben weit abgeschlagen zurück hinter dem, was die Australierin Cate Shortland dieses Jahr auf Deutsch und mit deutschen Schauspielerinnen zeigt. Lore ist ein Drama, das radikal die Seite wechselt. Es zeigt nicht das Leiden der Juden, es sucht nicht die guten Deutschen. Lore zeigt, was es heissen kann, wenn ein Glaubenssystem zerfällt, was es heisst, den Herrenrassenanspruch aufgeben zu müssen und zu erkennen, woran man selber Schuld trägt.

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Locarno 12: JACK AND DIANE von Bradley Rust-Grey

Jack and Diane 1

Jack and Diane ist ein Song von John Cougar Mellencamp und als Filmtitel absichtlich irreführend. Denn das Liebespaar des Songs (der nicht vorkommt im Film, dafür ist die „Only you“-Version der Flying Pickets zentral) ist noch keines hier, Diane ist ein sehr junges blondes Zwillingsmädchen. Und Jack ist ein nicht viel älteres, burschikoses Mädchen, eine butch lesbian. Es geht um die Schrecken und Verwirrungen der ersten grossen Liebe und Leidenschaft und dafür findet der Film Bilder, die überraschen – wenn man nicht gerade ein Liebhaber des Genrekinos ist. Denn schon die ersten Einstellungen zeigen Blut und suggerieren ein haariges Monster, welches in der einen oder der anderen jungen Frau lauert.

Mich hat das an den Wermädchen-Film Ginger Snaps erinnert, auch wenn jener ganz klar Genrekino ist und Jack and Diane eine ziemlich feinfühlige coming of age-Geschichte mit ein paar groben Effekten.

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Locarno 12: LOS MEJORES TEMAS von Nicolás Pereda

los mejores temas 1

Ein filmisches Verwirrspiel aus Mexiko, ein lustvolles Geplänkel zu einem nicht ganze einfachen Thema. Es geht um einen Vater, der nach 15 Jahren Abwesenheit plötzlich wieder auftaucht und seinen nun 28jährigen Sohn und dessen Mutter in Verlegenheit stürzt. Schmeissen wir ihn gleich wieder raus oder hören wir uns erst seine Geschichte an?

Aber bis man als Zuschauer erst mal verstanden hat, wer da wer ist und worum sich die Dinge und Worte drehen, steht eine ganze Reihe hübscher Spiele an. Zunächst ist da die lange Reihe von Liebesbeteuerungen, welche der Sohn vor sich hin spricht, immer wieder, ein wenig stockend, mal bei der Mutter, mal bei der hübschen jungen Frau, welche sich als seine Schwester entpuppt. Es sind die Titel von Schlagern, eben den „mejores temas“, den besten Songs, welche er auf einer MP3-CD zusammengestellt verkauft, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.

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Cannes 12: Die Preise

Michael Haneke freut sich mit seiner Frau über die goldene Palme
Michael Haneke freut sich mit seiner Frau über die goldene Palme

Kein Preis für Leos Carax und seine Holy Motors. Sehr, sehr ungerecht. Dafür für Matteo Garrones eher schwachen Reality. Da kann man Jurypräsident Nanni Moretti bloss zurufen: „Mani pulite!“

Hier das Palmarès, jeweils direkt verlinkt zum enstprechenden Blogeintrag:

Palme d’Or
AMOUR von Michael Haneke

Grand Prix
REALITY von Matteo Garrone

Prix de la mise en scène (Regiepreis)
Carlos Reygadas für POST TENEBRAS LUX

Prix du scénario (Drehbuchpreis)
Cristian Mungiu für DUPÃ DEALURI (AU-DELA DES COLLINES)

Prix d’interprétation féminine (beste Darstellerin)
Cristina Flutur und Cosmina Stratan in DUPÃ DEALURI von Cristian MUNGIU

Prix d’interprétation masculine (bester Darsteller)
Mads Mikkelsen in JAGTEN von Thomas Vinterberg

Prix du Jury (Jurypreis)
THE ANGELS‘ SHARE von Ken Loach

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Cannes 12: COSMOPOLIS von David Cronenberg

Robert Pattinson
Robert Pattinson

„Ihre Prostata ist asymmetrisch.“ Das erklärt der Ersatzarzt dem 28jährigen Milliardär Eric Packer (Robert Pattinson) beim Checkup in der weissen Stretchlimousine. Der Mann mit den Gummihandschuhen ist zu der Diagnose gelangt, während sein Klient sich mit seiner Analystin Vija Kinsky (Samantha Morton) über Währungsveränderungen und Geldflüsse unterhielt.

Kurz davor ist Juliette Binoche für einen Quickie zugestiegen, und um Packer einen Rothko schmackhaft zu machen. David Cronenberg packt den Roman von Don DeLillo in ein stockend durch New York cruisendes Roadmovie mit unablässig dialogenden Figuren. Dabei hält er sich, so weit ich das auf die Schnelle überprüfen konnte, an die vorgegebenen Dialoge des Romans, was beim Publikum hier in Cannes zu etwelchem Schnaufen und Stöhnen geführt hat. „Cannes 12: COSMOPOLIS von David Cronenberg“ weiterlesen

Cannes 12: THE PAPERBOY von Lee Daniels

Nicole Kidman
Nicole Kidman

Nicole Kidman im „oversexed Barbiedoll“-Modus (Zitat aus dem Film) ist so ziemlich die einzige wirklich interessante Figur in diesem überwürzten, überstürzten, zu einem Brei verkochten Sumpfland-Thriller. Der lokale Zeitungsverleger (Scott Glenn) und seine beiden Söhne, Journalist Ward (Matthew McConaughey) und der von der Schule geflogene Schwimmer Jack (Zac Efron) sind eher Funktionen als Charaktere. Der von John Cusack gespielte widerliche Todesstrafe-Kandidat Hillary Van Wetter, um dessen Schuld oder Unschuld am Mord an einem rassistischen Sheriff sich die Geschichte dreht, lehrt einen zwar das Fürchten, sonst aber gar nichts.

Die einzige Figur, an welcher Regisseur Lee Daniels wirklich ein Interessen zu haben scheint, ist das langjährige schwarze Hausmädchen der James-Familie. Sie ist es auch, die in einer ansonsten völlig unmotivierten Rahmenhandlung als Erzählerin eingeführt wird. „Cannes 12: THE PAPERBOY von Lee Daniels“ weiterlesen

Cannes 12: HOLY MOTORS von Leos Carax

Monsieur Merde
Monsieur Merde (Denis Lavant)

Monsieur Merde ist wieder da. Das Kanalisationsmonster aus Leos Carax‘ Tokyo! Episode von 2008 ist eine der diversen Figuren, welche Carax‘ Zentralschauspieler Denis Lavant in diesem wunderbar verschrobenen neuen Film spielt – und dies gleich im zweifachen Sinn. Holy Motors ist eine Art Science Fiction Fabel, ein abgrundlustiges, zuweilen trauriges, vor allem aber unglaublich anregendes Spiel mit dem Spiel.

Denis Lavant ist in Holy Motors eine Art Schauspieler. Er wird in einer weissen Stretch-Limousine in Paris herumchauffiert, von einer Fahrerin namens Céline. Sie verwaltet auch seine Termine und legt Dossiers für ihn bereit. In diesen findet er die Angaben zu seiner Figur und zu den Menschen, mit denen diese interagieren soll. „Cannes 12: HOLY MOTORS von Leos Carax“ weiterlesen