BLACK FLIES von Jean-Stéphane Sauvaire

Sean Penn und Tye Sherindan in ‚Black Flies‘ © Ascot-Elite

Das ist zunächst erst mal kein Film, sondern eine Attacke. Die ersten 25 Minuten von Black Flies folgt dem jungen Paramedic Ollie Cross (Tye Sheridan) auf seinen ersten Einsätzen in einer Ambulanz des New York City Fire Departments FDNY.

Lärm, Sirenen, Musik und Blinklichter erzeugen einen Stroboskop-Effekt, den Jean-Stéphane Sauvaire auch dann noch weiterzieht, wenn die Bilder für einen Moment ruhiger werden, wenn der Protagonist zu schlafen versucht, das Blinken des Rotlichtes unterliegt einem guten Teil dieser Sequenzen. „BLACK FLIES von Jean-Stéphane Sauvaire“ weiterlesen

YOUTH (SPRING) Quingchun von Wang Bing

© Arte France Cinema

Dreieinhalb Stunden Dokumentarfilm über Textil-Sweatshops in China, das klingt erst mal ein wenig anstrengend. Tatsächlich ist der Film von Wang Bing aber noch anstrengender als erwartet.

Das ist kein Dokumentarfilm über Ausbeutung, globale Produktionswege, Billigtextilien oder menschenverachtend optimierte Abläufe, jedenfalls nicht im längst zur Gewohnheit gewordenen Infotainment-Sinne. „YOUTH (SPRING) Quingchun von Wang Bing“ weiterlesen

LE RETOUR von Catherine Corsini

Esther Gohourou, Suzy Bemba, Aïssatou Diallo Sagna © Chaz Films

Der endlose Sommer der Jugend verläuft anders als erwartet für die Teenager Jessica und Farah, die mit ihrer Mutter nach Korsika gekommen sind.

Kheìdidja (Aïssatou Diallo Sagna) ist ihren Arbeitgebern auf deren Wunsch in die Ferien nach Korsika nachgefahren. Sie ist das Kindermädchen für den Nachwuchs des reichen Paares Sylvia (Virginie Ledoyen) und Marc (Denis Podalydès). Und weil die mit ihren drei jüngeren in der Villa mit Pool und am Strand nicht klarkommen, haben sie der Nanny auf dem Campingplatz einen Caravan gemietet und gemeint, sie könne ja ihre Töchter mitbringen. „LE RETOUR von Catherine Corsini“ weiterlesen

MONSTER (Kaibutsu) von Hirokazu Kore-Eda

Freunde? Feinde? Oder mehr? Hiiragi Hinata und Soya Kurokawa © cineworx

Saori Mugino (Sakura Ando) fällt bei ihrem sonst so aufmerksamen und liebevollen Sohn Minato (Soya Kurokawa) eine Verstörung auf, das Fehlen eines einzelnen Turnschuhs, Erde in seiner Schultrinkflasche.

Und die seltsame Frage, ob ein Mensch mit einem Schweinehirn immer noch ein Mensch sei, oder doch eher ein Schwein. Das sei eine theoretische Frage, sein Lehrer Hori (Eita Nagayama) habe sie aufgeworfen. „MONSTER (Kaibutsu) von Hirokazu Kore-Eda“ weiterlesen

JEANNE DU BARRY von Maïwenn

Eröffnungsfilm des 76. Filmfestivals von Cannes

Jeder Auftritt ein Skandal: Jeanne du Barry (Maïwenn) und Louis XV (Johnny Depp) © frenetic

Johnny Depp als Louis XV von Frankreich? Warum nicht. Wenn Maïwenn inszeniert und auch gleich seine Mätresse Jeanne du Barry spielt, muss der gefallene König der Piraten auch auf Französisch bloss murmeln. Und das kann er wirklich.

Sophia Coppola ist schuld. Die Tochter des «Godfather»-Regisseurs hat 2006 am Filmfestival in Cannes ihre «Marie Antoinette» mit Kirsten Dunst in der Hauptrolle präsentiert. Der knutschbunte Film in Cupcake-Ästhetik hat die Dekadenz am Hof von Versailles mit einer Art Instagram-Psychologie verknüpft. „JEANNE DU BARRY von Maïwenn“ weiterlesen

DIE GOLDENEN JAHRE von Barbara Kulcsar

Esther Gemsch und Stefan Kurt © filmcoopi

Für das frischpensionierte Ehepaar Alice und Peter entpuppt sich der Start in Die goldenen Jahre als unerwartet dramatische Knacknuss. Petra Volpe (Die göttliche Ordnung) hat das Drehbuch geschrieben, Barbara Kulcsar (Nebelgrind) inszeniert Esther Gemsch, Stefan Kurt und Ueli Jaeggi in dieser Dramödie, die am ZFF ihre Premiere feierte.

«Unser Sohn ist ein Gigolo. Und unsere Tochter trinkt zu viel».

Das bemerkt der frisch pensionierte Peter (Stefan Kurt) gegenüber seiner Frau Alice (Esther Gemsch) am Schluss der grossen Feier mit Familie und Freunden.

Und schiebt grinsend nach: «Nümm üsses Problem!» „DIE GOLDENEN JAHRE von Barbara Kulcsar“ weiterlesen

EN ATTENDANT BOJANGLES von Régis Roinsard

‚En attendant Bojangles‘ Virginie Efira, Romain Duris © Pathé Films

Warten auf Bojangles – «En attendant Bojangles» – war der Debutroman von Olivier Bourdeaut, ein sofortiger Bestseller in Frankreich. Jetzt tanzt die leichtfüssige Geschichte einer depressionsgefährdeten grossen Liebe über die Leinwand. Der Film von Régis Roinsard ist grosses Kino, weil er den emotionalen Absturz achterbahnmässig aufbaut.

«Mr. Bojangles», der traurige Clown im Gefängnis, der mit seinen Sprüngen alle zum Lachen bringt, wurde seit den 1960er Jahren von allen Grossen besungen, von Sammy Davis jr. über Bob Dylan bis zu Nina Simone.

Bojangles steht nicht nur im Titel des Romans von Olivier Bourdeaut, er ist auch das perfekte Bild für himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt, das die Geschichte einer ganz grossen manisch-depressiven Liebe prägt. In dieser Geschichte ist die von Virginie Efira gespielte Camille eine Art Bojangles.

Virginie Efira, Romain Duris © Pathé Films

Régis Roinsard beginnt seinen Film auf dem absoluten manischen Höhepunkt. Der von Romain Duris gespielte Garagenbesitzer Georges Fouquet verliebt sich in Camille, als diese an einem mondänen Fest voll bekleidet ins Wasser springt. Beide lieben das Spiel mit dem Schein; sie spielen für sich gegenseitig die verrücktesten Figuren, mit den absolutesten Ansprüchen an das Leben, die Liebe und die Leidenschaft.

Vor allem Camille will nichts wissen von den banaleren Seiten des Alltags. Die beiden heiraten, bekommen einen Sohn und leben im permanenten Rausch des Feierns und Tanzens.

Natürlich geht es nicht lang, bis man sich als Zuschauer fragt, wo denn die Realität im Leben dieses Paares bleibt. Camille ist die Königin des Ausblendens, was nicht passt, wird ignoriert, seien es die Rechnungen, die sich in der Wohnungsecke stapeln oder die geregelten Ansprüche der Schule an die Erziehung des Sohnes – aus dessen Perspektive die Geschichte auch zunehmend erzählt wird.

Virginie Efira, Solan Machado-Graner, © Pathé Films

Camilles charmante Verrücktheit ist mitreissend, nicht nur für ihren Mann und ihr Kind.

Er habe die Verrücktheit immer als etwas Fantastisches begriffen, sagt Regisseur Roinsard.

Und so präsentiert sich denn auch die erste Hälfte seines Films als mitreissende Utopie, als Feier der Liebe und der Lebensfreude. Bis Vater und Sohn bei Camille immer mehr Anzeichen heimlicher Trauer oder gar Verzweiflung bemerken.

Virginie Efira, Solan Machado-Graner, Romain Duris © Pathé Films

Camille ist, nüchtern betrachtet, manisch-depressiv. Und ihre Abgründe reissen ihren Mann und ihren Sohn schliesslich genauso mit, wie ihre Höhenflüge.

Diese Gefühlsachterbahn hat nicht nur den Roman getrieben, sie eignet sich auch perfekt für das Kino. Das ist in seiner intensivsten Ausprägung als Melodram ja grundsätzlich manisch-depressiv.

Den Kontrast von himmelhochjauchzend zum Absturz fängt im Film wie im Roman der Blick des erzählenden Sohnes auf. Er nimmt uns, im Rückblick, als Erwachsener, mit auf die Reise, die er überlebt hat, indem er auch die Höhenflüge seiner Eltern in Erinnerung behält.

En attendant Bojangles ist als Film darum mindestens so stark wie das Buch, weil Regisseur Roinsard das Kino hier ganz grundsätzlich als Achterbahn der Gefühle laufen lässt. Lachen und Weinen, das eine befeuert das andere.

Kinostart Deutschschweiz: 4. August 2022

MONTE VERITÀ von Stefan Jäger

Hermann Hesse (Joel Basman), Maresi Riegner als Hanna Leitner, Julia Jentsch als Ida Hofmann und Max Hubacher als Otto Gross © DCM

Der Monte Verità, ein Hügel bei Ascona am Lago Maggiore, ist legendär. Da trafen sich schon in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts Aussteigerinnen, Freigeister, Künstlerinnen und Reformer. Mit seinem aufwändigen Kostümfilm Monte Verità erweckt Stefan Jäger die Epoche nun zu Leinwandleben.

Den Einheimischen im Fischerdorf Ascona waren sie mehrheitlich ein Dorn im Auge. Die Spinner auf dem Hügel tanzten nackt auf der Wiese, bauten Gemüse an und verbreiteten Ideen, welche noch mehr Spinner aus der halben Welt anzogen. „MONTE VERITÀ von Stefan Jäger“ weiterlesen

MEMORIA von Apichatpong Weerasethakul

Tilda Swinton © Kick the Machine

Vor etwas über zehn Jahren hat Weerasethakul mit Uncle Bonmee uns in Cannes das kindliche Vergnügen am magischen Denken zurückgebracht. An diesen Onkel, der sich an seine früheren Existenzen erinnern konnte, erinnert Weerasethakuls erster ausserhalb von Thailand spielender neuer Film.

Tilda Swinton ist als Schottin in Kolumbien unterwegs, schläft in einer Wohnung und schreckt mitten in der Nacht auf, als sie einen lauten, dumpfen Knall hört. „MEMORIA von Apichatpong Weerasethakul“ weiterlesen

LES OLYMPIADES, Paris 13e (Paris 13th District) von Jacques Audiard

Noémi Merlant und Makita Samba in ‚Les olympiades‘ © page 114

Gleich drei Cannes-Stars haben am Drehbuch zu Jacques Audiards jüngstem Film gearbeitet: Der Regisseur selbst, Léa Mysius, die 2017 mit Ava überrascht hatte, und Céline Sciamma, deren Portrait de la jeune fille en feu an der letzten regulären Cannes-Ausgabe den Drehbuch-Preis und unzählige Herzen gewonnen hatte.

Gemeinsam haben sie drei Kurzgeschichten des graphic novelist Adrian Tomine (Amber Sweet/Killing and Dying/Summer Blonde/Hawaiian Getaway) in ein episodisches, perfekt verknüpftes Drehbuch gepackt. „LES OLYMPIADES, Paris 13e (Paris 13th District) von Jacques Audiard“ weiterlesen