Fuori dalle corde (Wettbewerb)

Fulvio Bernasconi ist Tessiner, sein Boxerfilm Fuori dalle corde spielt vor allem in Italien, in Triest, aber auch in Kroatien, Deutschland und der Schweiz. Mike ist ein junger Boxer und seine Schwester, die ihn unterstützt, seit sie 15 war, hat alles auf ihn gesetzt. Als ihm in Deutschland die Lizenz entzogen wird und er in Italien auch nicht auf einen grünen Zweig kommt, lässt er sich auf klandestine Schaukämpfe im „fight club“ freestyle ein.  Das ist einerseits ein klassischer Boxerfilm,mit allen Genrekonventionen, andererseits aber auch eine Höllenfahrt, inklusive mephistophelischem Sidekick und ausführlichen Norman-Mailer-Zitaten. Dabei merkt man dem Film hin und wieder an, dass ganze Sequenzen um Drehorte herum konstruiert wurden, um ein Trockendock im Hafen von Triest zum Beispiel, um eine Stahlbrücke für Fussgänger, oder um einen leeren Swimming Pool, in dem einer der Schaukämpfe stattfindet. Dieses Bild war auch die Initialzündung für das ganze Projekt, sagt Regisseur Bernasconi. Aber es ist schon eine reife Leistung, wie Bernasconi die Genrekonventionen und die Absehbarkeit der Geschichte immer wieder zu ihrem Vorteil wendet. Ich würde nicht so weit gehen wie Kollege Pierre Lachat, der dem Film einen Leoparden prophezeit, aber im bisherigen Wettbewerb steht Fuori dalle corde ganz gut da.

Freigesprochen (Wettbewerb)

Der Österreicher Peter Payer (Jahrgang 1964) ist mit einer Buchverfilmung bekannt geworden: „Untersuchung an Mädeln“ nach Albert Drach, 1999. Sein neuer Film folgt dem Stoff eines bewährten und schon lange toten Österreichers, dem Theaterstück „Der jüngste Tag“ von Ödön von Horvath. Diese Geschichte vom Bahnwärter, der, wegen eines Kusses unaufmerksam geworden, ein Zugsunglück mit 22 Toten verursacht, von seiner eifersüchtigen Frau vor Gericht belastet und von der verliebten jungen Küsserin entlastet wird, ist schon
im Original bestechend direkt als Auseinandersetzung mit dem Thema Schuld. Payers in unsere Zeit umgesetzte Verfilmung mit Frank Giering als Bahnwärter und Corinna Harfouch in der Rolle seiner Frau ist faszinierend direkt, schnörkellos und fast zu perfekt inszeniert, jedenfalls der bisher bei weitestem perfektionierte Film im Wettbewerb. Und erst im Rückblick ist die Theaterstruktur der Geschichte wieder zu erkennen, im Kino überwiegt das Erlebnis. Und dieses Erlebnis wird immer mehr zu einem Suchterlebnis. Denn der Bahnwärter und die junge Frau entwickeln mit der Zeit fast schon ein krankhaftes Bedürfnis danach, sich ihrer Schuld immer und immer wieder neu zu versichern, erst einzeln und bald auch gemeinsam. Der Film suggeriert, dass nicht nur geteiltes Glück doppeltes Glück sei, sondern auch geteilte Schuld. Ein starker Film.

The Bourne Ultimatum (Piazza Grande)

Mit nur zwei Filmen hat sich die Figur des persönlichkeitsprogrammierten Ex-CIA-Killers Jason Bourne (Matt Damon) zu einer ernsthaften und vor allem sehr zeitgemässen James-Bond-Konkurrenz entwickelt. Dabei bestehen die Filme aus wenig mehr als dem üblichen Eintopf aus Verschwörungs-Paranoia, High-Tech und den guten alten Verfolgungsjagden. Aber der aktuelle dritte Teil (Regie führte wie schon beim zweiten der Brite Paul Greengrass) macht nun schlagartig klar, was dieses Erzählsystem zur unschlagbaren Adrenalinpumpe gemacht hat: Es ist die simple Zuschauer-Symmetrie. Auf der einen Seite sitzt das Kinopublikum, hier in Locarno perfekt verkörpert von mehr als 6000 Menschen auf der Piazza Grande, auf der anderen sitzen die Guten und die Bösen in der CIA-Zentrale hinter ihrem Monitor-, Überwachungs-, Abhör- und Fernsteuer-System, und dazwischen der gute alte Kinoheld Jason Bourne, der rennt, schlägt, schiesst, fährt und grübelt. Nun kann die Verfolgungsjagd noch so komplex sein, der Schnitt so dynamisch, wild und verrückt wie noch nie: Dank dem Spiegelpublikum im Film, den Typen hinter den Monitoren in der Zentrale, verliert man nie die Übersicht. Die Bourne-Filme sind also eine Art Meta-Kino, oder sagen wir, ein Filmsystem mit eingebautem GPS, Action mit Wegleitung. Dazu kommt allerdings, und das wurde heute Nacht auf der Piazza Grande besonders deutlich, ein erstklassiger Schnitt, der das Achsen- und Koordinatensystem auch der komplexsten Szenerie perfekt in der Blick-Logik behält. Ob Bourne an Londons Waterloo-Station einen Guardian-Reporter an einem dutzend Agenten vorbeischleust (via Telefon), oder ob er über den Dächern und durch die Häuser in Tangier die süsse Nicky Blonsky (Julia Stiles) vor einem seiner Killer-Kollegen zu schützen versucht, man verliert nie die Orientierung und man verliert zugleich nie die Lust auf noch mehr Tempo und Action. The Bourne Ultimatum ist in der Tat die Quintessenz des aktuellen Action-Kinos, absolut massentaugliche Avantgarde und damit eine reife Leistung. Und auf der bis auf den letzten Platz gefüllten Piazza Grande bot sich ein faszinierendes Bild, wenn man sich während einer der Verfolgungsjagden einmal kurz umdrehte und etliche tausend Köpfe und Augenpaare im gleichtakt hin und herschwenkten, zusammen mit den gebündelten Lichtstrahlen aus der Projektionskabine. Plötzlich war man Jason Bourne, eingeklemmt zwischen den Verfolgern auf der Leinwand und dem faszinierten Publikum auf den Plastikstühlen…

Früher oder später (Wettbewerb)

Lola Klamroth in ‚Früher oder später‘

Es mutet wie eine tolle Idee an, einen Film mit Peter Lohmeyer zu drehen, in dem seine 14jährige Tochter Lola Klamroth die Hauptrolle spielt. Und wahrscheinlich fanden die Produzenten und Geldgeber (inklusive ZDF) das alle einhellig, so dass niemand auf die Idee kam, die Dialoge im Skript von Regisseurin Ulrike von Ribbeck und ihrer Co-Autorin Katharina Held zu lesen. Wenn man sie aber hört, im Kino, dann gibts kein Halten mehr.

„Immer schön weiter füttern“, sagt der verantwortungslose junge Vater (Harald Schrott) zu seinem entenfütternden Sohnemann in Windeln am Seeufer, während er versucht, die Tochter (Lola Klamroth) seiner Nachbarin, mit der er früher mal was hatte, zu verführen. „Was machen wir bloss?“ fragt die verzweifelte Mutter (Beata Lehmann), nachdem die Tochter beim Gartenpicknick mit Gästen den verführungslustigen Nachbarn und Alt-Ex der Mutter mit dem Revolver des Vaters angeschossen hat und geflüchtet ist.

„Ich hol mal die Taschenlampe aus dem Keller“, sagt der Vater (Lohmeyer).

Dazu ist der ganze Film mit Referenz-Einstellungen voll gepackt, insbesondere Kubricks Lolita wird über und über zitiert, mal hat Lola einen Lollypop im Mund, mal liegt sie im Bikini auf dem Gartenstuhl, mal lackiert sich die ansonsten überflüssige Tante die Fussnägel und dann sieht man Nora gar mit dem Hoola Hoop Reifen reifeln.

Der Film war eine unfreiwillige Lachnummer im Pressevorführungskino in Locarno. Denn das ist die Tücke der Festivals: Ist die Heiterkeit unter den Presseleuten mal ausgebrochen, ist sie kaum mehr zu bremsen.

Dabei hat die Sache durchaus radikale Ansätze. Es ist eine bitterböse Geschichte, nahe an der der Realität und radikal direkt umgesetzt. Vielleicht zu direkt, denn alles, was zwangsläufig, bzw. zwingend sein sollte an der Geschichte, ist nun erst mal absehbar und leicht abgeschmackt.

Autorenfilme sind ein gefährliches, tückisches Geschäft; dramatische Ideen kippen leicht und bei Früher oder später ist nun leider eine ganze Menge gekippt. Man darf getrost annehmen, dass in der Auswahlkomission des Festivals von Locarno niemand Deutsch versteht. Anders ist nicht zu erklären, dass dieser Film den Weg in den Wettbewerb gefunden hat, man tut ihm keinen Gefallen damit.

Contre toute espérance (Wettbewerb)

Seit den einschlägigen dänischen Dramen der letzten Jahre geistert unter Festivalgängern der Begriff „Feel Bad Movie“ umher, eine ironische Bezeichnung für jene Filme, welche die menschliche Leidensfähigkeit so gekonnt und eindrücklich auf die Leinwand bringen, wie dieses Drama aus Kanada.

Contre toute espérance ist nicht nur der Titel, sondern auch das Programm. Réjeanne, eine Telefonistin, und ihr Mann, ein sanftmütiger Lastwagenfahrer, haben sich endlich ihr Traumhaus gekauft, als das Schicksal zuschlägt. Immer wieder. Der Film ist Teil einer geplanten Trilogie zu den christlichen Grundwerten von Bernard Émond, und man merkt deutlich, dass Émond vom Werk von Krzysztof Kieslowski fasziniert sein muss.

Allerdings gibt es, abgesehen von einem kurzen Besuch der Hauptfigur in einer Kirche und ihrem letzten Satz im Film („Dieu, aide-moi“) keine religiösen Referenzen. Der Film ist vielmehr ein plakativ individualisiertes Plädoyer gegen den Konzern-Kapitalismus.

Réjeanne ist eine Schwester der duldsamen Frauen bei Lars von Trier, aber nicht in einem Melodram, sondern in einem dieser nüchtern realistischen Hammerfilme, bei denen es schwer fällt, zwischen der Wirkung der benutzten Erzählmittel und der Wirkung der erzählten Geschichte zu trennen.

Ein Film jedenfalls, der gut in den aktuellen Wettbewerb von Locarno passt, der Film eines Regisseurs, von dem man sagen darf, dass er mit Sicherheit noch besser werden wird.

J’ai toujours rêvé d’être un gangster

Gestern Abend war auf der Piazza Grande die eigenartigste Nostalgie am Werk, die ich hier je erlebt habe. J’ai toujours rêvé d’être un gangster von Samuel Benchetrit ist ein mehr oder weniger stationäres Roadmovie, das in der Pariser Banlieu spielt.

Die wunderschöne Anna Mouglalis (mittlerweile Mme Benchetrit) und eine Reihe anbetungswürdiger Altstars der französischen A- und B-Schauspielergarde tummeln sich Donald-Duck-ähnlich in dieser Geschichte um Möchtegern- bzw. Warenmal-Gangster.

Weil der Film in wundervollem Schwarz-Weiss gedreht wurde, mit Stummfilm-Gags und vielen Referenzen an das italienische Kino der 60er Jahre, wirkt er ein wenig wie ein früher Jim Jarmusch auf Französisch. Paradox, weil Jarmusch auf die gleichen Quellen verweist.

Abgesehen davon, dass der Film unheimlich rührend und unheimlich lustig ist, hat diese „Jarmuschisierung“ zu einer neuen Erkenntnis für mich als Berufskinogänger geführt: Stilbeschreibungen sind nicht immer generationenübergreifend. Wer mit Jarmusch sozialisiert worden ist, sieht diese Bilder anders, als jemand, der mitten in der nouvelle vague das Kino entdeckte. Und Nostalgie kann auch vom Echo eines Echos ausgelöst werden.

Slipstream von Anthony Hopkins

Wenn Stars plötzlich Regie führen und dann gar noch eigene Drehbücher verfilmen, dann redet man in Hollywood gerne von einem „vanity project“, einem Eitelkeits-Vorhaben. Es gibt sogar eine Theorie, dass Studios und Produzenten Stars damit bestrafen, dass sie sie Regie führen lassen, weil sie danach, nach einem Flop, wieder viel leichter zu handhaben sind. Bei Sir Anthony Hopkins lag der Fall wohl ein wenig anders. Slipstream ist ganz sicher nicht Mainstream, und floppen kann der Film nicht, weil er schon gar nicht auf einen Kassenerfolg hin angelegt ist. Ein Vanity Project ist das trotzdem, aber ein sympathisches. Die Story, die Hopkins sich ausgedacht hat, ist kompliziert genug. Im Zentrum steht er, alsalternder Drehbuchautor Felix Bonhoeffer, dem seine Wirklichkeit und seine erfundenen Drehbuchwelten durcheinander geraten. Das ist sehr ambitioniert erzählt, mit unzähligen Ebenen- und Realitätswechseln, einer erstklassigen Kameraführung, in Breitwandformat und perfekt ausgeleuchtet, mit einer raffinierten Tonspur und einer ganzen Horde eindrücklicher Schauspielerinnen und Schauspieler. Hopkins selber verschwindet beinahe im ganzen Feuerwerk an inszenatorischen Verwirrmomenten, was einen sympathisch bescheidenen Zug verrät. Gleichzeitig ist das leider alles ein wenig beliebig, abgesehen von der permanenten Verwirrung, in die einen der Film stürzt, hat er aber eine ganze Menge witziger Hollywood-Aperçus zu bieten. Auf einem chaotischen Filmset werkelt zum Beispiel ein Weichei von Regisseur (inklusive Baby im Snugly vor der Brust), während auf einem Golfplatz oder sonst wo John Turturro einen berserkernden Produzenten namens Harvey gibt, der kein Auge trocken lässt. Alles in allem merkt man dem Film auf positive Weise an, dass keine kommerziellen Interessen dahinter stehen. Ob es dazu allerdings nötig ist, das Ganze so zu erzählen, dass man – vielleicht im Sinne Godards – Anfang Mitte und Schluss, sowie alles dazwischen und dahinter beliebig umstellen könnte, ohne den Gesamteindruck zu verändern? Eitelkeit findet immer einen Weg, und sei es die Kurve über die Bescheidenheit.

Filmpodcast Woche 31 2007: 1 to 1, Schwarzenegger, Bergmann, Bideau, Locarno

Herzlich Willkommen zum DRS Filmpodcast für die Woche 31. Direkt aus Locarno und rappelvoll. Nadja Fischer nimmt Abschied von Ingmar Bergmann, Pierre Lachat bespricht den dänischen Film 1 to 1, Max Akerman in San Francisco fasst zum 60. Geburtstag die politische Karriere von Arnold Schwarzenegger zusammen. Und dann steigen wir ein ins Filmfestival von Locarno, mit einem historischen Beitrag von Erich Facon, einem kurzen Gespräch mit Festivaldirektor Frédéric Maire und zwei filmpolitischen Beiträgen von mir zur Subventionspolitik von Bundesfilmchef Nicolas Bideau.

Vexille ist (auch) ein Geek-Fest

Ich habe ein Weilchen gebraucht, bis mir klar wurde, wie sehr Fumihiko Soris Anime-Epos Vexille (siehe auch den vorherigen Blogeintrag) die Geeks und die Nerds im Zielpublikum bedient. Da heisst zum Beispiel der Boss der US-Agenten, welche die japanischen Androiden bekämpfen, ausgerechnet Borg (ein Gag für Trekkies). Und warum mit dem Google-Schriftzug (die farbigen Buchstaben sagen „Barbara“ in einer Szene) Schindluder getrieben wird, macht der Abspann des Filmes klar: Zu den Sponsoren gehört auch Yahoo Japan. Für die vielen Sponsorengäste in Locarno war das wohl geschenkt, aber der Film bietet ja auch jenen einiges, die schon nach zwei Minuten den Faden verlieren. Und hier noch eine kurze Einordnung des Ganzen von Regisseur Fumihiko Sori:

Manga in High Definition

Mit Vexille von Fumihiko Sori aus Japan wird heute Abend das Filmfestival von Locarno eröffnet. Ob das nun Anime ist oder Manga oder Animationsfilm: „Vexille“ ist spektakulär. Der Film holt das Maximum aus der neuen High Definition-Digital-Projektion heraus, optisch ist das ein Fest. Inhaltlich ist die Sache zumindest faszinierend, wenn auch nur in der Story-Line originell und weniger in den einzelnen Sequenzen. Die Geschichte spielt in Japan im Jahr 2077, Japan hat vorzehn Jahren die UNO verlassen, um sich der geächteten Entwicklung von Androiden weiter widmen zu können. Nun weiss auf der Welt niemand, was in dem elektronisch abgeschirmten Land in diesen zehn Jahren passiert ist. Man vermutet allerdings, dass Japan zu einer Bedrohung für die Menschheit geworden ist, und darum schicken die Amerikaner ein Kampf-Team von SWORD, darunter die Heldin Vexille heimlich in die Zone. Was die (samt und sonders japanisch sprechenden) Amerikaner an High Tech und Überraschungen erwartet in Tokyo, ist tatsächlich spektakulär. Vom virtuellen Keyboard im Auto bis zu den irren Raketenwürmern aus Metall-Schrott wird optisch ein Dauerfeuerwerk geboten, das alles bisher gesehene in den Schatten stellt. Dass die Geschichte den aktuell in den Kinos laufenden „Transformer“-Schrott von Michael Bay vergessen macht, ist ein weiterer Pluspunkt. Im Pressekino waren die Bilder phantastisch, ich bin gespannt, wie das heute Abend auf der riesigen Piazza-Leinwand aussieht. In Japan startet der Film übrigens am 18. August, das ist also ein ziemlich exklusiver Eröffnungsfilm für Locarno.