BERLINGUER: LA GRANDE AMBIZIONE von Andrea Segre

Elio Germano als Enrico Berlinguer © cineworx

Italiens Filmemacher sind besessen von Italiens Politikern. Jedenfalls jene ihrer Generation und deren Väter. Marco Bellocchio hat mit Buongiorno, notte (2003) die Entführung und Ermordung Aldo Moros durch die Brigate rosse rekonstruiert. Paolo Sorrentino hat Giulio Andreotti Il divo gewidmet, und dem Phänomen Silvio Berlusconi gar einen Zweiteiler mit Loro 1 und Loro 2. Und Nanni Moretti, der 1991 in Il portaborse von Daniele Lucchetti als Schauspieler die Mühlen politischer Korruption durchlitt, hat in seinen Filmen immer wieder direkt Bezug genommen auf die reale italienische Politik. Mit Il sol dell’avvenire (2023) hat er zuletzt gar die Wechselwirkungen und Ähnlichkeiten zwischen Filmemachern und Politikern direkt auf die Schippe genommen.

Andrea Segre kommt vom Dokumentarfilm, sein Berlinguer profitiert davon, dank etlicher dokumentarischer Archiveinschübe und sorgfältiger Abwägung. Aber Berlinguer: la grande ambizione ist dennoch, wie der Titel vermuten lässt, ein Heldenporträt. „BERLINGUER: LA GRANDE AMBIZIONE von Andrea Segre“ weiterlesen

SANTOSH von Sandhya Suri

Santosh (Shahana Goswami) © Sister Distribution

Der zentrale Satz in diesem eindrücklichen Film kommt von der interessantesten Figur, ganz zum Ende hin:

«Es gibt zwei Sorten von Unberührbaren in diesem Land. Jene, die niemand berühren will. Und diejenigen, die niemand berühren darf».

Damit erfasst die alternde, engagierte, korrupte und korrumpierte Polizistin Sharma (Sunita Rajwar) das traditionelle indische und das zeitgenössische globale Kastensystem. Sie hat ihr ganzes Berufsleben dem Kampf gegen den Sexismus, die allgegenwärtige und systemische Gewalt gegen Frauen gewidmet, eine effiziente Brigade aufgebaut, Vergewaltiger und Frauenmörder ermittelt, überführt und einer Strafe zugeführt. Mit legalen und mit illegalen Mitteln. Und dies in einem konstanten Balance-Akt innerhalb des nicht minder sexistischen und korrupten Polizeiapparates. „SANTOSH von Sandhya Suri“ weiterlesen

MONSIEUR AZNAVOUR von Mehdi Idir & Grand Corps Malade

Tahar Rahim als Aznavour © Pathé

Schauspieler Tahar Rahim bekam für diesen Film eine falsche Nase verpasst, damit sie sich die Figur, die er verkörpert, wegmachen lassen kann. Auf Anraten von Edith Piaf. Das Schöne daran? Der Umstand repräsentiert perfekt die Geschichte, die der Film erzählt.

Shahnourh Vaghinag Aznavourian, Sohn armenischstämmiger Einwanderer aus Georgien, verwandelte sich mit Beharrlichkeit und harter Arbeit in den Sänger (und Schauspieler) Charles Aznavour. Und der wiederum verkörperte schliesslich weltweit die «frenchness», wie vor ihm nur? Edith Piaf. „MONSIEUR AZNAVOUR von Mehdi Idir & Grand Corps Malade“ weiterlesen

Die Unverpassbaren, Woche 20 – 2025

‚When we were Sisters‘: Paula Rapaport , Malou Mösli © filmcoopi

Erst diese fünf Filme sehen, dann alle anderen:

  1. When we were Sisters von Lisa Brühlmann. Während sich die Töchter eines neuen Paares im Urlaub finden, entfremden sich die Eltern. Familienstellen, hochverdichtet.
  2. Black Bag von Steven Soderbergh. Ein eleganter, hochprofessioneller und mit viel Metawitz durchsetzter Spionagekammerthriller mit einem grossartigen Ensemble.
  3. Quir von Nicola Bellucci. Ein fröhlicher, liebevoller Film mit dem ältesten «queeren» Paar in Palermo und seinem Freundeskreis. Pride in Sizilien, Leben auf der Leinwand.
  4. Ernest Cole – Lost and Found von Raoul Peck. Mit den Arbeiten und der tragischen Biografie des revolutionären Fotografen aus Südafrika schreibt Peck ein weiteres Kapitel seiner antikolonialen Gegengeschichte.
  5. Bagger Drama von Piet Baumgartner. Ein stilles Schweizer Familiendrama voll mit kinetischem Leben, vom Bagger-Ballett bis zum Bettlift-Bremsen. Bis alles ausartet im Maisfeld.

LA PETITE VADROUILLE von Bruno Podalydès

Sandrine Kiberlain, Bruno Podalydès, Denis Podalydès, Daniel Auteuil, Florence Muller und Dimitri Doré in ‚La petite vadrouille‘ © xenix

Die verschroben komischen, alltagspoetischen Familienfilme von Bruno Podalydès gehören seit Jahren zu den verlässlichen Werten der französischen Leinwandkleinkunst. Stets ist Bruder Denis mit von der Partie, in der Regel auch Florence Muller, fast immer die wunderbare Sandrine Kiberlain, oder dann Karin Viard, Josiane Balasko oder auch Agnès Jaoui. Podalydès-Filme sind kleine Kopfreisen, wilde Trips in Gestalt bescheidener Ausflüge, wie etwa die Binnen-Paddelei Comme un avion von 2015 oder Les deux Alfred von 2021.

La petite vadrouille, der jüngste dieser Familienausflüge, ist nun allerdings allzu bescheiden ausgefallen. „LA PETITE VADROUILLE von Bruno Podalydès“ weiterlesen

BLACK BAG von Steven Soderbergh

Michael Fassbender in ‚Black Bag‘ © Universal

Slow Horses, die hinreissende Serialisierung der Jackson-Lamb-Romane von Mick Herron hat das Ende der klassischen britischen Spionage-Thriller markiert, wie auch den Anfang der diesbezüglichen Nostalgie. Gary Oldman als furzender, saufender und stinkender Boss der strafversetzten MI5-Agentinnen und Agenten im «Slough House», dem Schmuddelkinder-Ableger der institutionellen britischen Drahtzieher, ist der personifizierte Tief- und Höhepunkt einer stolzen Kino-Tradition.

Die brutale Eleganz von James Bond, oder die realistische Raffinesse von John Le Carrés Smiley und Co. haben eine filmische Tradition begründet, deren Spuren heute allgegenwärtig sind, und entsprechend leicht zu parodieren. Selbst die jeweiligen zeitgenössischen Parodien, von Casino Royale über die französischen OSS 117-Filme bis zu den Sargnagel-Variationen von Rowan Atkinsons Johnny-English-Komödien fanden unlängst ein Nachglühen in nostalgischen Neuauflagen.

Wenn sich nun allerdings Steven Soderbergh hinter die Materie macht, der Mann, der seinen vor zwölf Jahren verkündeten Abschied vom Kino seither mit mehr als fünfzehn weiteren Filmen zur verkapptesten Leinwand-Liebeserklärung aller Zeiten gemacht hat, dann darf man schon eine Art Quintessenz erwarten.

Und die liefert Black Bag. „BLACK BAG von Steven Soderbergh“ weiterlesen

TROP CHAUD von Benjamin Weiss

‚Trop chaud – KlimaSeniorinnen vs. Switzerland‘ © Anderdog Film

Nein, wegen seiner formalen Qualitäten gehört dieser Dokumentarfilm nicht auf die grosse Kinoleinwand. Benjamin Weiss und Daniel Hitzig, sein Co-Autor, erzählen ihre Geschichte mit der bewährten Raffinesse eines längeren 10vor10- oder Tagesschau-Beitrages auf SRF, bis hin zum professionellen Off-Kommentar, gesprochen von Suzanne Zahnd. Tritt ein Experte oder eine Expertin auf, wird er oder sie ebenfalls zunächst ganz fernsehmässig auf Distanz «etabliert», etwa beim gezielten Marsch zur Bürotür.

Aber der Inhalt von Trop chaud, der nimmt einen durchaus mit. Zuerst auf die acht Jahre dauernde Geduldsreise der Schweizer Klimaseniorinnen, von der sorgfältigen Planung ihrer Anhörung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EMRK) am 28. März 2023 in Strassburg bis zur Urteilsverkündung vom 9. April 2024. „TROP CHAUD von Benjamin Weiss“ weiterlesen

Die Unverpassbaren, Woche 19 – 2025

Ernest Cole: Lost and Found © trigon-film

Erst diese fünf Filme sehen, dann alle anderen:

  1. Quir von Nicola Bellucci. Ein fröhlicher, liebevoller Film mit dem ältesten «queeren» Paar in Palermo und seinem Freundeskreis. Pride in Sizilien, Leben auf der Leinwand.
  2. Ernest Cole – Lost and Found von Raoul Peck. Mit den Arbeiten und der tragischen Biografie des revolutionären Fotografen aus Südafrika schreibt Peck ein weiteres Kapitel seiner antikolonialen Gegengeschichte.
  3. Bagger Drama von Piet Baumgartner. Ein stilles Schweizer Familiendrama voll mit kinetischem Leben, vom Bagger-Ballett bis zum Bettlift-Bremsen. Bis alles ausartet im Maisfeld.
  4. Immortals von Maja Tschumi. Die jungen Menschen im Widerstands-untergrund in Bagdad sind nicht nur Protagonisten, sondern Ko-Autorinnen in diesem sehr ungewöhnlichen, aufrüttelnden Dokumentarfilm.
  5. Vracht von Max Carlo Kohal. Vom Lehrling zum Kapitän auf dem Rhein. Älter werden gegen den Strom, in einem grossartigen Dokumentarfilm.

QUIR – A PALERMO LOVE STORY von Nicola Bellucci

Gino Campanella und Massimo Milani © cineworx

«Ich hatte schon eine klare politische Haltung. Das war damals nicht unbedingt normal: Eine Schwuchtel zu sein war das eine. Aber politisiert und links zu sein, war etwas anderes. Die Ehe passte nicht zu meinen Ansichten. Wir hätten darauf verzichten können. Es war alles Teil eines Kampfes, bei dem es um die Freiheit ging. Alle waren überzeugt, dass es eine offizielle Trauung war! Viele Schwule fragten uns: ‘Wie habt ihr es bloss geschafft, zu heiraten?’»

Heiraten, weil sie es eigentlich nicht durften, aus politischen Gründen, das scheint typisch für Massimo Milani und Gino Campanella. Während sie auf der Tonspur von Quir von ihrem politischen Engagement erzählen, das unter anderem zur Gründung von Arcigay führte, Italiens erster grosser Schwulenorganisation, sitzen sie am Tischchen auf der Strasse gegenüber von ihrem kleinen Lederwaren-Atelier in Palermo, dem «Quir», und essen Spaghetti.

Alles kommt beiläufig, abgeklärt, meist fröhlich daher, was uns Nicola Bellucci mit diesem aussergewöhnlichen Dokumentarfilm näher bringt. „QUIR – A PALERMO LOVE STORY von Nicola Bellucci“ weiterlesen

DAS GEHEIMNIS VON BERN von Stascha Bader

Stascha Bader als Trilby-Marlowe-Maloney auf der Suche nach dem Geheimnis von Bern © Ascot-Elite

Da steht er auf der nächtlichen Kornhausbrücke, bereit zum letzten Sprung, das Berner Stadtoriginal, dr Dällebach Kari. Aber irgendwas stimmt da nicht. Das ist doch gar nicht Bern, da im Hintergrund? Und warum trägt der Kari einen Trenchcoat wie Humphrey Bogart als Philip Maloney, und einen Trilby Hut, wie der Zürcher Filmer Stascha Bader?

Und da schimpft er auch schon los, der Stascha Bader: «Züri! Was für en himmeltruurige Band-Friedhof! Früener, ums Nünzä-Achzgi umme: Das isch Rock’n’Roll gsi!»

Der Einstieg ist so fulminant und originell wie das meiste, was darauf folgt in diesem Dokumentarfilm zum Geheimnis der Dominanz der Berner Mundart über die Deutschschweizer Musikszene und -Geschichte. „DAS GEHEIMNIS VON BERN von Stascha Bader“ weiterlesen