THE LANDSCAPE AND THE FURY von Nicole Vögele

GRAND PRIX VISIONS DU RÉEL 2024

‚The Landscape and the Fury‘ von Nicole Vögele © Beauvoir Films

Wälder und Felder hinter diesem kleinen bosnischen Ort an der grünen Grenze zu Kroatien sind voller Minen aus dem Bosnienkrieg der 1990er Jahre. Und durch die gleichen Wälder und Felder kommen immer wieder gruppenweise Migrantinnen und Migranten, Flüchtlinge aus Afghanistan, Kurdinnen, ganze Familien mit kleinen Kindern.

Von der Grenzpolizei werden sie misshandelt, ausgeraubt, ihre Telefone zerstört – und zurückgeschickt, barfuss, ohne Hoffnung, ohne eine andere Möglichkeit, als es wieder und wieder zu versuchen.

Das alles wissen wir noch nicht, wir ahnen es aber, als Nicole Vögeles über zwei Stunden langer Dokumentarfilm einsetzt, in voller Dunkelheit.

Der Titel ist so faszinierend anziehend und paradox wie der ganze Film. Wie kann sich Wut in einer Landschaft ausdrücken, wenn sie so unberührt und endlos aussieht wie diese Wälder und Felder am Rande Bosniens?

Eine erste einzelne Schuhsohle in einer Pfütze vermittelt eine Ahnung.

Immer wieder werden wir solche Einstellungen sehen, auf Kleider und Rucksackreste, zertrümmerte Mobiltelefone mitten im Wald. Oder ein beiläufiger Schwenk auf ein Minenwarnschild mit Totenkopf im Unterholz.

Wir sehen aber auch die Menschen, die in der Gegend leben. Beim Holzhacken, während auf dem Weg hinter dem Hof eine Familie leicht ratlos den Weg in den Ort sucht.

Oder den einsamen Minensucher, der mit Metalldetektor, Schutzkleidung und Helm Meter für Meter Pflöcke einschlägt, schmale sichere Korridore durch das Feld oder den Wald markiert mit gelben Plastikbändern.

Irgendwann hören wir, wie der Imam neben dem Minarett einer Migrantengruppe den Weg zum Dorfladen erklärt.

Dann bellen wieder Hunde. Immer bellen irgendwo Hunde. Die Hunde, die wir zu sehen bekommen, die sind allerdings alle ganz ruhig.

Von dieser Spannung lebt der ganze grossartige Film von Nicole Vögele. Nie passiert wirklich etwas.

Von den Misshandlungen der Flüchtlinge durch die Grenzpolizei erfahren wir, weil sich eine ortsansässige Familie darüber austauscht. Mit Mitleid und Unverständnis, mit Verweis auf mögliche kleine Hilfestellungen.

Die Tochter bezahlt die Einkäufe der Menschen, nachdem der Polizist deren Euroschein zerrissen hat. In der neuen Schule im Ort lernen die Kinder mit der Lehrerin, auch ein nationalistisch-patriotisches Lied, dass offensichtlich auf dem Lehrplan steht.

Aber nicht weit davon entfernt steht das alte Schulhaus, das die Gemeinde stillschweigend als Notunterkunft für die Flüchtlinge geöffnet hat.

All das reimen wir uns gemächlich zusammen.

Nicole Vögele (Mitte) mit ihren Produzenten in Nyon © sennhauser

Wo kein Kommentar die Dinge erkläre, sagt Nicole Vögele nach der Premiere in Nyon, da müsse sie dem Publikum die Zeit lassen, die Zusammenhänge zu verstehen.

Und: Sie habe nicht im Anschluss an ihre Journalistenlaufbahn Film studiert, um einfach bessere Fernsehdokumentationen zu machen.

Wer diesen Satz für arrogant hält, hat The Landscape and the Fury nicht erlebt.

Dieser Dokumentarfilm steht für alles, was ein Kinoerlebnis einzigartig und nachhaltig macht. Da werden nicht die kalten Fakten illustriert, wie in der Tagesschau. Da werden auch nicht schnell empörende Kontraste erzeugt, die sich gegenseitig auslöschen.

Ich komme aus dem Kino und habe etwas in mir umgeräumt, neu geordnet, vielleicht sogar verstanden, das ich schon davor gewusst habe.

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